Hugo Grünwald

«Systemische Therapie ist wirksam.»

Wie steht es um die wissenschaftliche Anerkennung
der systemischen Therapie? Was sind aktuelle Herausforderungen und Fragestellungen? Diese Fragen erläutert die Psychotherapeutin Kirsten von Sydow, die in der deutschen Psychotherapieforschung eine tragende Rolle spielt, im Gespräch mit Anita Hardegger, Bereichsleiterin am IEF.

 

Kirsten von Sydow, Sie haben einen wesentlichen Beitrag zur Anerkennung der systemischen Therapie als Psychotherapieverfahren in Deutschland geleistet und tragen bis heute viel zur systemischen Forschung bei. Was war und ist Ihre Motivation?

Als Psychologin, die schon gewisse Zeit in Forschung und akademischer Lehre gearbeitet hatte, und als Psychotherapeutin mit systemischem und tiefenpsychologischem Hintergrund fand ich es immer wichtig, dass sich Psychotherapie an empirischer Evidenz orientiert, sowohl in der Therapie- wie auch in der Grundlagenforschung.

«Nichts hat mich so sehr innerlich erreicht wie meine systemische Ausbildung und besonders die Selbsterfahrung.»

Gleichzeitig hat mich nichts aus meiner Aus- und Weiterbildung so sehr innerlich erreicht, bewegt und – ein Stück weit – verändert wie meine systemische Ausbildung und besonders die Selbsterfahrung. Ich liebte die systemische Therapie und war auch Anhängerin der evidenzbasierten Psychotherapie, was manchmal etwas konflikthaft war und es zum Teil heute noch ist. Umso mehr freue ich mich darüber, dass die systemische Therapie im zweiten Anlauf 2008 vom Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie für alle Altersgruppen – Kinder und Jugendliche sowie Erwachsene – anerkannt wurde.

Wofür braucht es aus Ihrer Sicht noch weitere systemische Forschung?

Ich bin keine Anhängerin des Begriffs «systemische Forschung», genauso wie ich auch «psychodynamische Forschung» oder «verhaltenstherapeutische Forschung» nicht für sinnvoll halte. Insofern ist für mich die relevante Frage, welche Forschung wir in Bezug auf die Weiterentwicklung der systemischen Therapie brauchen. Wir brauchen auf der Seite der angehenden Systemiker:innen vor allem Aufgeschlossenheit für und Wissen über empirische Forschung, also auch Forschungsmethodik, Manuale und Symptom- wie auch Beziehungsdiagnostik; auch wenn wir Systemiker:innen Bauchschmerzen bei symptomorientierten Diagnosen haben und sie nur als «Hypothesen mit begrenzter Haltbarkeit» verstehen. So ist es in der Forschung und auch im Hinblick auf die Kostenübernahme von Psychotherapien durch Krankenversicherungen wesentlich, dass in randomisierten, kontrollierten Studien und Metaanalysen belegt werden kann, dass spezifische Interventionen wirksam sind und Störungen oder Symptome verringern. Ausserdem scheint mir wichtig, dass auch Systemiker:innen die publizierten Ergebnisse der Grundlagenforschung zur Kenntnis nehmen und dass das auch gelehrt wird.

Welches sind die aktuellen Herausforderungen im systemischen Forschungsfeld?

Systemische Therapie ist wirksam, das belegen nicht nur Reviews, sondern auch Metaanalysen «von aussen». Offene Fragen sind zum Beispiel: Inwieweit sind spezifischen Formen und Manuale der systemischen Therapie bei Depressionen im Kindes- und Jugendalter oder Störungen des Sozialverhaltens im Kindes- und Jugendalter wirksam oder auch in Bezug auf Persönlichkeitsstörungen, insbesondere auch Borderline, oder auf Depressionen bei Erwachsenen? Wann ist Einzel-, wann Mehrpersonensetting, wann Gruppe und wann Multifamiliengruppe am wirksamsten und am kosteneffektivsten?

«Wichtig sind Forschungsdesigns, die ‹harte Daten› und subjektive Daten wie Narrative oder individuelle Sichtweisen berücksichtigen.»

Es gibt bemerkenswert positive Effekte von systemischer Therapie bei bestimmten somatischen Erkran- kungen wie z.B. Asthma, Adipositas, Diabetes im Kindes- und Jugendalter, Rückenschmerzen oder bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Wie könnte hier eine höhere Implementierung in die klinische Versorgung in der somatischen Medizin erreicht werden?

Wie kann Forschung der Kybernetik II und der so wichtigen Grundhaltung der systemischen Therapie gerecht werden?

Orientiert an der Kybernetik zweiter Ordnung verste- hen sich Forscher:innen und Therapeut:innen selbst auch als Teil des beobachteten Systems. Mit Konzepten wie Selbststeuerung, Selbstorganisation oder struktureller Autonomie von Lebewesen wird auf normative Vorstellungen über Familien und Gesundheit eher verzichtet und versucht, das Klientensystem irgendwie zu ‹verstören›. Unter manchen Systemiker:innen gilt die Kybernetik zweiter Ordnung als besonders avantgardistisch, doch fast alle evidenzbasierten Ansätze der Systemischen Therapie beruhen auf der Kybernetik erster Ordnung. Allerdings ist systemischen Therapeut:innen klar, dass Veränderungen – wenn überhaupt! – nur bei guter Zusammenarbeit mit den Klient:innen und Respektierung der Eigendynamik des Patientensystems möglich werden. Jede Psychotherapie im Dienst der Krankenkassen hat wiederum das Ziel, die gemeinsam entwickelten Therapieziele zu realisieren und die Symptomatik zu verringern – auch systemische Therapie! Wichtig sind Forschungsdesigns, die «harte Daten» wie somatische Parameter, standardisierte subjektive Daten in Selbst- und Fremdeinschätzung und sonstige subjektive Daten wie Narrative oder individuelle Sichtweisen berücksichtigen und idealerweise in Beziehung zueinander setzen.

Psychotherapieforschung ist so aktuell wie nie. Gibt es noch Forschungsergebnisse, die überraschen? Wenn ja: Welches hat Sie in jüngster Zeit überrascht?

Überrascht haben mich die sehr umfassenden Metaanalysen des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, die 2023 zur Wirksamkeit von systemischer Therapie bei Kindern und Jugendlichen erschienen sind. Die systemische Therapie hat in vieler Hinsicht sehr gut abgeschnitten, gerade auch bezüglich der Behandlung von Angst-, Ess-, Substanzkonsum-, hyperkinetischen und gemischten Störungen. Positiv überrascht hat mich die neueste, 2021 erschienene Ausgabe der «Bibel» der Psychotherapieforschung, das «Bergin and Garfield’s Handbook of Psychotherapy and Behavior Change». Hier gibt es erstmals ein Kapitel zu «Systemic Therapies» und nicht nur zu «Couple and Family Therapy». Zudem wird die systemische Therapie im Abschlusskapitel sogar als erstgenannte Gewinnerin im Feld der Psychotherapie aufgeführt.

Mit Blick auf die allgemeinen Wirkfaktoren: Wird es in Zukunft überhaupt noch unterschiedliche Therapieschulen geben oder werden wir nur noch Psychotherapieweiterbildungen mit beispielsweise systemischem Schwerpunkt anbieten?

Ich glaube, dass es früher oder später eine allgemeine Psychotherapie geben wird und dass diese stark systemisch geprägt sein wird. Die bisher in Deutschland dominante Schule, die Verhaltenstherapie, ist inzwischen schon sehr ressourcenorientiert und versteht Fälle zunehmend systemisch. Aus der psychodynamischen Therapie kommt das Konzept der Mentalisierung und des «epistemischen Vertrauens» – das bringt die Bindungsforschung ins Spiel, aus meiner Sicht ein sehr integrativer Ansatz. In Deutschland müsste dafür im Gegensatz zur Schweiz eine grundlegende Reform des Psychotherapiegesetzes erfolgen.

Wie nutzen Sie Ihr Wissen aus der Forschung in Ihrer psychotherapeutischen Praxis?
Hat sich Ihre praktische Tätigkeit verändert?

Aus der Grundlagenforschung sind für mich besonders Bindungstraumata, Psychotraumatologie, Mentalisierung und «epistemisches Vertrauen» bedeutsam. Ich versuche traumasensibel zu arbeiten und auch ressourcenorientiert auf gravierende Traumafolgesymptome wie zum Beispiel Selbstverletzung oder Dissoziation zu blicken. Das impliziert aber auch, dass Menschen und Familien mit schweren Bindungstraumata therapeutisch Zeit brauchen.

«Wie bringen wir Kreativität und Spielfreude mit dem ‹strengen› Denken und Handeln zusammen?»

In Bezug auf Outcome-Forschung versuche ich die Patient:innen korrekt aufzuklären, insbesondere auch über Ansätze, die besonders gut in ihrer Wirksamkeit belegt sind und die ich selbst nicht beherrsche. Ich versuche, immer weiter Neues zu lernen sowohl aus der Grundlagenforschung, aus neuen Therapieansätzen, aus Manualen sowie auch von meinen Patient:innen. Das ist es ja, was unseren Beruf so schön macht!

Was wäre Ihnen auch noch wichtig zu sagen?

Ich bin mal eingeladen worden, einen Vortrag zu dem schönen, vorgegebenen Titel «Bleiben wir anders?» zu halten. Das ist die Frage, sowohl für mich mit meinen unterschiedlichen inneren Anteilen als auch für Forschung, Lehre, Supervision und klinische Praxis: Ob es uns immer wieder gelingt, das «lockere» Denken und therapeutische Handeln – also Kreativität, Spielfreude und Humor, die typisch systemisch sind – mit dem «strengen» Denken und Handeln zusammenzubringen?

Herzlichen Dank für das Gespräch.

 

Prof. Dr. phil. Kirsten von Sydow, Psychotherapeutin mit integrativer Orientierung (tiefenpsychologisch/systemisch), lehrt an der Medical School Hamburg (MSH) und ist in eigener Praxis in Hamburg tätig. Sie ist seit 2004 stellvertretendes, seit 2019 reguläres Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats Psychotherapie (WBP). Sie veröffentlichte eine Vielzahl an Fachpublikationen und unterrichtet am IEF in der postgradualen Weiterbildung «Systemische Psychotherapie».