«Supervision ist ein sich selbst organisierendes System.»

Was zeichnet die systemische Supervision aus? Wie kann sie betriebliche Veränderungen unterstützen? Andrea Ebbecke-Nohlen, Lehrtherapeutin, Lehrsupervisorin und Lehrender Coach am renommierten Heidelberger Helm Stierlin Institut skizziert die wichtigsten Grundlagen ihres Verständnisses von Supervision.


Frau Ebbecke-Nohlen, Sie bieten ab dem  kommenden Winter am IEF eine Weiterbildung in systemischer Supervision an. Wie würden Sie Supervision beschreiben?

Supervision verstehe ich als Weiterbildungs-, Beratungs- und Reflexionsverfahren für berufliche Zusammenhänge. Institutionelle und individuelle Fragestellungen werden hier unter Berücksichtigung des jeweiligen Kontextes lösungs- und ressourcenorientiert bearbeitet. Dabei gibt es eine beachtliche Variationsbreite an Settings. Supervidiert werden Einzelne, Gruppen, Teams – also die Leitung zusammen mit den Mitarbeitenden – und ganze Organisationen. Dem Aushandeln von Supervisionsaufträgen und der Gestaltung von Supervisionsprozessen kommt dabei besondere Aufmerksamkeit zu. Vor allem bei der Auftragsklärung ist hier zu bedenken, dass es in Teams unterschiedliche Interessen und damit oft verbunden auch unterschiedliche Erwartungen an eine Supervision gibt. Dies gilt es gleich zu Anfang transparent zu machen, als Ressource zu nutzen und zu versuchen, alle Beteiligten miteinzubeziehen. Dabei ist es wichtig, verstärkt auf Interaktionen und Muster zu achten und gleichzeitig die einzelnen an den Prozessen beteiligten Menschen als eigenverantwortlich Handelnde anzusprechen. 

Worin sehen Sie den Unterschied zum Coaching?

Im Unterschied zu Supervision bewegt sich Coaching stärker an der Schnittstelle zwischen persönlichen und beruflichen Themen. Systemisches Coaching kann einerseits zum Ziel haben, die individuellen Kompetenzen und Bedürfnisse einer Person mit den Anforderungen eines Unternehmens zu vergleichen und abzustimmen. Systemisches Coaching kann andererseits auch ermöglichen, die persönliche, berufliche und familiäre Entwicklung entsprechend der jeweiligen Lebensphase in Einklang zu bringen. Insgesamt wird der Begriff Coaching heute jedoch fast inflationär gebraucht. In meinem Arbeitskontext verwende ich ihn vor allem für meine Arbeit mit Führungskräften und Projektleitern im Einzelsetting und bei Dreieckskontrakten. Die Realität ist allerdings fliessend. Letztlich handelt es sich um künstliche, terminologische Grenzen. Man könnte sagen, dass in der Regel der Klient die Produktbezeichnung festlegt. Will er Supervision, machen wir Supervision, zieht er Coaching vor, machen wir Coaching. Unsere Methoden ähneln sich in beiden Feldern, unser theoretischer Hintergrund ist der gleiche – und unsere Haltung sowieso.

Wie würden Sie diese Haltung zusammenfassen?

Systemisches Handeln fühlt sich ausdrücklich der Allparteilichkeit verpflichtet. Die Neutralität des Supervisors ist zentral. Sie wird jedoch oft herausgefordert, da viele unterschiedliche Interessen im Raum sind und eine Positionierung des Supervisors oft eingefordert wird. Wertschätzender Respekt gegenüber Personen einerseits und Respektlosigkeit gegenüber möglicherweise festgefahrenen Ideen andererseits sind weitere Haltungsaspekte. Unsere Kontextsensibilität verweist zudem darauf, dass es keine generell besseren oder schlechteren Lösungswege gibt, sondern dass Lösungen passend zum jeweiligen Kontext gefunden werden sollten. Gendersensitivity und Diversity sind weitere wichtige, handlungsleitende systemische Haltungen, die zusammen mit den vorher genannten Haltungen als ethische Prinzipien systemischen Handelns verstanden werden können.

Es versteht sich fast von selbst, dass so grundlegende Dinge wie Ressourcenorientierung und Lösungsorientierung als systemische Haltungen unverzichtbar sind. Statt Defizite und Probleme nehmen wir in der systemischen Supervision Ressourcen in den Blick und fragen zum Beispiel verstärkt auch nach dem, was gut läuft in den Arbeitsabläufen eines Teams oder einer Organisation und was so bleiben darf, wie es ist. Erst danach fragen wir möglicherweise nach den Veränderungswünschen. Wir schauen mit Wertschätzung auf die Beteiligten, ihre Gefühle, Gedanken und Handlungsweisen. Fundamentaler Bestandteil einer systemischen Haltung ist allerdings die Neugier, die darin liegt, scheinbar Vorgegebenes zu hinterfragen und neue Zusammenhänge zu erschliessen. Mit einer Haltung der Neugier verbunden ist auch die Erkenntnis, dass es immer etwas Neues zu entdecken gibt und dieses Neue einen weiterbringen wird. 

Was ist eigentlich systemisch an Ihrem Verständnis von Supervision?

Der markanteste Unterschied zu nichtsystemischen Verständnissen liegt meines Erachtens in der Art des Erkennens: Die Realität kann vom Betrachter nicht unabhängig von sich selbst erfasst werden. Vielmehr ist der Beobachter immer selber auch Teil der Beobachtung. Das heisst, was als wirklich angesehen wird, ist eine sehr individuelle Sache. In der Supervision ist folglich die Beschreibung unterschiedlicher Wirklichkeiten durch verschiedene Teammitglieder eine für den weiteren Erkenntnisprozess zentrale und erwünschte Angelegenheit. Dazu zählt unter anderem auch die Integration von scheinbar konträren Zielen. Hier gilt es, Unterschiede und Gemeinsamkeiten eines Teams zu erfragen und als sinnvolle Beiträge zur Weiterentwicklung zu verstehen. So wollen zum Beispiel einige Teammitglieder neue Abläufe einführen und andere wollen beim Bewährten bleiben. In einem solchen Fall ist es wichtig, sowohl Wandel als auch Kontinuität als wichtige Elemente des Fortbestehens einer Organisation positiv zu konnotieren und dann differenziert zu schauen, was beibehalten und was verändert werden soll.

In der systemischen Supervision verstehen wir zudem das System, das aus Supervisanden und Supervisor besteht, als ein sich selbst organisierendes System. Dabei gibt der Supervisor den Expertenstatus für die inhaltlichen Lösungen an die Supervisanden ab. Der Supervisor hat allerdings massgebliche Verantwortung für die Gestaltung des Kommunikationsprozesses. Sein Nichtwissen darüber, was die «richtige» Lösung ist, wird dadurch zur Expertise, dass er zirkuläre, den Möglichkeitsraum erweiternde Fragen an die Supervisanden stellt und diese dadurch als inhaltliche Experten bestätigt. Die Auswirkungen verschiedener Lösungsoptionen werden mit den Beteiligten durchgespielt und gewichtet. Damit Veränderungen in Teams gelingen, ist es grundlegend, dass sich die Supervisanden wieder als kompetente und eigenverantwortliche Mitgestalter ihrer Arbeitsprozesse verstehen.

Zentral für mein Verständnis von systemischer Supervision ist jedenfalls der kontinuierliche Perspektivenwechsel als Methode. Der Supervisor wechselt immer wieder seine eigene Blickrichtung und lädt auch die Supervisanden wiederholt dazu ein, neue Perspektiven einzunehmen, indem er zum Beispiel danach fragt, wofür das geschilderte Problem eine Lösung darstellen könnte oder, noch unerwarteter, was die Supervisanden selbst tun könnten, um das genannte Problem zu verschlimmern. Die vielfältigen Perspektivenwechsel ermöglichen es, von eingefahrenen Problembeschreibungen wegzukommen. So gelangen wir manchmal fast spielerisch zu neuen, lösungsrelevanten Erkenntnissen und können gelegentlich den Humor als weiteren Mitspieler und Co-Supervisor einladen. Insgesamt stützt sich die systemische Supervision auf meta- und praxistheoretische Ansätze verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen. Alle diese Elemente stellen zusammen ein allgemeines Paradigma dar, aber keine in sich abgeschlossene Theorie. Paradigmatisch sind zum Beispiel der nichtlineare Umgang mit Komplexität oder die multifaktoriellen Erklärungskonzepte.

Können Sie diese Konzepte mit einfachen Worten etwas konkretisieren?

Diese Konzepte verweisen unter anderem darauf, dass wir aus einem einfachen Ursache-Wirkungs-Denken aussteigen und Probleme als durch viele unterschiedliche Faktoren bedingte Zusammenhänge erkennen. Ein hoher Krankenstand in einem Team ist zum Beispiel nicht einfach die Ursache für die beklagte hohe Arbeitsbelastung, sondern der hohe Krankenstand steht in Wechselwirkung mit der hohen Arbeitsbelastung und umgekehrt. Dazu können weitere Faktoren kommen, wie besondere Spielregeln in einem Team oder in einer Organisation, die ebenfalls mit den genannten Faktoren Krankenstand und Arbeitsbelastung in Wechselwirkung stehen. Für die Supervision kann dies bedeuten, Ideen im Team zu sammeln, wie dieses Team wieder besser für sich sorgen kann und mit welchem Verhalten jedes einzelne Teammitglied dazu beitragen kann. Dabei ist es wichtig, sowohl strukturelle wie individuelle Lösungsbeiträge ins Auge zu fassen.

An wen richtet sich Ihr neues Angebot in systemischer Supervision am IEF?

Bevorzugt angesprochen sind Personen, die in psychosozialen, psychiatrischen und beratenden Einrichtungen bereits Supervision anbieten oder anbieten wollen, zum Beispiel Ärztinnen, Psychologen, Sozialarbeitende, Lehrer, Theologinnen, Mediatorinnen und Personalfachleute mit einer abgeschlossenen Weiterbildung in systemischer Therapie und Beratung. Gerade auch für erfahrene Psychotherapeut /innen sind die Auseinandersetzung mit beruflichen Teams und die Reflexion betrieblicher Spielregeln noch nicht so geläufig. Genau genommen ist diese Weiterbildung für alle Menschen, die mit Teams arbeiten, vor allem für Führungskräfte, sehr attraktiv. Besonders interessant ist auch die Vielzahl neuer systemischer Methoden und Techniken, die passend zu den jeweiligen Frage-stellungen vorgestellt und in Übungen vertieft werden.

Das Gespräch mit Andrea Ebbecke-Nohlen ist publiziert im IEF-Magazin Nr. 3, Herbst 2016.