«Ich wollte aus meiner Angst vor dem Krieg etwas Sinnvolles machen.»

Der grausame Angriffskrieg auf die Ukraine dauert an. Eine Gruppe Psychotherapeut:innen engagiert sich in der Schweiz für ihre Berufskolleg:innen im ukrainischen Lwiw (Lemberg). Wie sieht diese Solidaritätsarbeit aus? Was können wir von den ukrainischen Kolleg:innen lernen? Claudia Starke engagierte sich von Beginn an in dieser Gruppe und zeigt, warum diese Unterstützung keine Einbahnstrasse ist.

 

Wir alle können uns noch gut erinnern: Im Februar 2022 griff die russische Armee die Ukraine an. Die Ukraine konnte dem heftigen Angriff standhalten und es entwickelte sich ein schrecklich grausamer Krieg, der bis heute in aller Heftigkeit andauert. Eine spürbare Folge waren die vielen Menschen, vor allem Frauen und Kinder, die in der Schweiz Zuflucht suchten. Im Frühjahr 2022 entwickelte sich eine breite Welle der Solidarität in der Schweizer Bevölkerung. Viele Geflüchtete aus der Ukraine wurden von Gastfamilien aufgenommen.

In diesem Kontext entstand die erste Initiative, in der systemische Fachpersonen eine aktive Rolle übernahmen. Die Gastfamilien sollten dabei unterstützt werden, wenn es zu Schwierigkeiten im Zusammenleben kommen sollte. In Zusammenarbeit mit «systemis», dem systemischen Dachverband, der Schweizerischen Flüchtlingshilfe und dem Bund entstand ein Netzwerk an Fachpersonen, die einen Telefondienst anboten, an den sich Gastfamilien bei Fragen oder Unsicherheiten wenden konnten. Dieses Hilfsangebot wurde aber wenig genutzt und nach der Pilotphase wieder eingestellt.

Gleichzeitig entwickelte sich auf der Basis von bereits bestehenden Kontakten zwischen Psychotherapeut:innen aus der Schweiz und der Ukraine ein intensiver Austausch, der bis heute andauert. Im Zentrum steht dabei Alexander Filz, Chefpsychiater an der Psychiatrischen Universitätsklinik von Lwiw. Er hat in Wien studiert und spricht fliessend Deutsch. Hilfreich sind die regelmässigen Onlinetreffen, die jeweils am Sonntagabend stattfinden. So konnte auch das Projekt realisiert werden, dass sieben ukrainische Psychotherapeut:innen im September 2024 zu einer Fortbildungs- und Erholungswoche in die Schweiz kamen. Diese Woche ermöglichte viele Begegnungen und einen intensiven professionellen Austausch. Der fachliche Austausch wird fortgesetzt, und so findet diesen Som- mer eine zweitägige Onlinefortbildung für die Kolleg:innen der Uniklinik Lwiw statt.

Anfang 2025 wurde zudem ein Aufruf lanciert, um ein Suchtklinik-Selbsthilfe-Projekt dieser Kolleg:innen finanziell zu unterstützen. Damit kann nun das Projekt, das stationär fünfzehn Patient:innen mit schwerer Alkohol- und Drogenabhängigkeit psychotherapeutisch betreut, minimal abgesichert werden. Die Patient:innen leiden zudem an zusätzlichen psychischen Störungen, meist aufgrund traumatischer Erlebnisse.

Bei all diesen Projekten war Claudia Starke aktiv beteiligt. Sie ist Psychiaterin, systemische Psychothe- rapeutin, Supervisorin und Vorstandsmitglied am IEF. Im Gespräch mit Martin Engel, ebenfalls Vorstandsmitglied am IEF, erläutert sie die Hintergründe dieses Engagements.

Was hat dich dazu geführt, dich in dieser Solidaritätsarbeit zu engagieren?

Als der Krieg ausbrach, hat mich das emotional stark umgetrieben. In diesem Moment ist der Krieg plötzlich wieder sehr nahe gerückt, auch weil meine Eltern vom Zweiten Weltkrieg stark traumatisiert waren. Ich hatte bereits ein paar ukrainische Bekannte, da bekam ich Angst um diese Menschen. Und so wollte ich aus meiner Angst vor dem Krieg etwas Sinnvolles machen und kam mit anderen in Kontakt, die ebenfalls aktiv werden wollten. Es ist auffallend, dass wir alle ganz unterschiedliche Geschichten haben, aber die Motivation doch eine ganz persönliche ist. Statt ohnmächtig zu jammern, fragten wir uns, was wir konkret tun können.

Auffallend bei diesen Aktionen ist, dass es sich um eine Solidarität mit Fachkolleg:innen handelt und der professionelle Austausch ein grosses Gewicht hat. Wie erklärst du dir das?

Ein Grund ist sicher, dass bereits einige berufliche Kontakte bestanden. Als wir sie dann fragten, was könnt ihr gebrauchen, kam die Antwort: Wir sind zwar alle sehr gut psychoanalytisch ausgebildet, aber jetzt müssen wir plötzlich mit sehr vielen Menschen arbeiten, die ganz aktuell – und eben nicht in der Kindheit – traumatisiert wurden. Wie gehen wir damit um? Da brauchen wir Unterstützung. So sind zum Beispiel über Onlinetreffen Supervisionen und Intervisionen entstanden.

«Statt ohnmächtig zu jammern, fragten wir uns, was wir konkret tun können.»

Was ziehen die Psychotherapeut:innen in der Schweiz aus diesem Austausch? Was beobachtest du da?

Das ist absolut keine Einbahnstrasse, im Gegenteil: Als im September 2024 die Gruppe aus Lwiw in Zürich war, haben wir gemerkt, was für hochkompetente, hervorragend ausgebildete und wunderbare Psychotherapeut:innen sie sind und was für einen reichen Erfahrungsschatz sie mitbringen. Da haben wir gefragt: Was wollt ihr von uns lernen, wir können doch nur von euch lernen! Sie haben ein enormes Engagement und konnten auf die kriegsbedingte Situation mit einer ausserordentlichen Flexibilität reagieren. Sie setzen all ihre Kräfte für die Menschen ein, die Hilfe brauchen. Man muss sich dabei vor Augen halten, dass die Bevölkerung von Lwiw mit den Binnenflüchtlingen etwa um 10–20 Prozent zugenommen hat. Zudem gibt es viele psychiatrische Kliniken im Osten des Landes nicht mehr. Wir dürfen schliesslich nicht vergessen, dass es neben den ganz vielen Kriegstraumatisierten auch noch die übrigen Patient:innen gibt.

Was beeindruckt dich an den ukrainischen Kolleg:innen?

Mir ist aufgefallen, dass sie sehr viel und sehr schnell lernen. Sie wussten zum Beispiel über die Geschichte der deutschsprachigen Psychiatrie viele Details, die mir selbst gar nicht oder nicht mehr bewusst waren. Sie sind auch in der Diagnostik sehr genau. Mich beeindruckt ihre Fokussierung auf das, um was es jetzt gerade geht, und ihre unglaublich hohe Resilienz. Sie arbeiten von früh bis spät, meist sieben Tage die Woche, haben oft auch noch Familie. Sie arbeiten mit einer grossen Selbstdisziplin und haben eine auffallend positive Haltung ihrem Beruf gegenüber. Sie sagen zum Beispiel immer wieder: Unser Beruf ist schön, Punkt. Sie pflegen einen freundlichen und ausgespro- chen wertschätzenden Umgang. Zudem halten sie als Team stark zusammen und helfen sich gegenseitig. Das sei ihnen in diesen schweren Zeiten besonders wichtig. Beim Besuch in der Schweiz war ja auch ihr Chef mit dabei, und da haben wir kein Machtgefälle auf der fachlichen Ebene gespürt, obwohl sie doch sehr hierarchisch organisiert sind – und sogar eher autoritätsgläubig wirken.

Wie können sie sich die Menschlichkeit und die Menschenwürde bewahren, dieser absolut brutalen Kriegslogik gegenüber?

Das habe ich mich auch immer mal wieder gefragt. Ich habe sie das nie direkt gefragt, aber ich habe beobachtet, wie sie mit sich selbst würdevoll umgehen und wie respektvoll sie sich gegenseitig behandeln. Sie wissen sehr genau, wofür sie ihre Arbeit tun. Es ist nicht nur eine Notwendigkeit, sondern eine Sinnhaftigkeit. Dabei können sie mit der Widersprüchlichkeit ihrer aktuellen Realität gut umgehen. Sie sind absolut friedliebende Menschen, aber sie unterstützen die Menschen, die im Kampf sind, und sorgen dafür, dass sie psychisch wieder stabilisiert werden können. Die «Ambiguitätskompetenz» scheint mir sehr hoch.


«Wir können von unseren Kolleg:innen so viel lernen.»


Warum lohnt es sich und warum macht es Sinn, hier in der Schweiz die Kolleg:innen in der Ukraine zu unterstützen?

Wenn wir die Psychotherapeut:innen in der Ukraine unterstützen, so können wir ein bisschen dazu beitragen, dass vor Ort das Leid verringert wird. Auch wenn dies nur ein minimaler Beitrag ist, so trägt dieser auch zu einer friedlicheren Zukunft bei. Denn wir müssen alles versuchen, dass traumatisierte Menschen über- haupt wieder in ihrem Inneren Ruhe und Frieden wahrnehmen und erleben können, denn sonst lebt in ihnen und durch sie nur der Krieg weiter.

Wir sind in diesem Austausch reicher beschenkt wor- den, als wir sie beschenken konnten. Wir können von unseren Kolleg:innen so viel lernen: Wir können lernen, wie wir in schwierigen Zeiten mit Schwierigem und Widersprüchlichem umgehen. Wir können lernen, dass ein persönlicher Zusammenhalt oft die einzige Sicherheit ist, die in so unsicheren und bedrohlichen Zeiten besteht. Und wir können viel von ihrer Leidenskompetenz lernen. Wir können lernen, wie wir mit Traumatisierten – mit sehr vielen! – konkret und praktisch umgehen. Und das müssen wir auch: Denn wir haben bereits sehr viele kriegstraumatisierte Menschen in der Schweiz, die nur ungenügend versorgt werden; aber wir werden es in Zukunft auch in der Schweiz mit noch deutlich mehr schwer traumatisierten Menschen zu tun haben.


Die Gruppe der engagierten Psychotherapeut:innen hat sich unterdessen einen Namen gegeben: Netzwerk Psychotherapie Ukraine-Schweiz.

Das Spendenkonto lautet: CH06 0900 0000 1644
7867 0 (Systemis, Ukraine-Hilfe, 8400 Winterthur).

Das Netzwerk freut sich über jede Unterstützung. Kontakt per Mail: [tocco-encoded-addr:MTAwLDExNCw0NiwxMTUsMTE2LDk3LDExNCwxMDcsMTAxLDY0LDEwNCwxMDUsMTEwLDQ2LDk5LDEwNA==]