Günter Schiepek IEF

«Von der Klassifikation zur Prozessdiagnostik»

Wo steht die wissenschaftliche Erforschung der Wirksamkeit von Psychotherapie? Prof. Günter Schiepek erläutert im Gespräch mit Hans Menning, Vorstandsmitglied des IEF, seine Forschungstätigkeit und wie die daraus resultierenden Erkenntnisse für die psychotherapeutische Praxis genutzt werden können..

 

Sie sind bereits vor 30 Jahren zur Systemik gekommen, also zu einem Zeitpunkt, als dieses Denken noch jung war. Wie ist es dazu gekommen? Was hat Sie persönlich angesprochen?

Ich hatte am Ende meines Studiums das Gefühl, dass die Psychologie zumindest aus meiner Perspektive nichts mehr völlig Neues hergeben würde, also irgendwie «ausgelutscht» war. So suchte ich dann nach Neuem, nach etwas, was noch wenig bekannt war, aber hinreichend komplex, um für meine wissenschaftliche Zukunft tragfähig zu sein und das auch dem Menschen gerecht werden könnte. Ich fand dies dann etwa in den Jahren 1982 bis 1984 im Thema der komplexen Systeme.

Zunächst bin ich auf ein Buch gestossen, das ich kaum verstand, es hiess «Systemtheorie» und behandelte Elektrotechnik. Dann aber begann ich die Bücher von Frederik Vester zu lesen, die spannend und gut ver- stehbar waren, befasste mich mit theoretischer Ökologie, mit Niklas Luhmann, Ludwig von Bertalanffy, Dietrich Dörner und mit einigen Pionieren der Systemischen Therapie wie zum Beispiel Kurt Ludewig. Die Beschäftigung mit der Ökologie und den Arbeiten von Vester inspirierte mich damals zur Entwicklung der idiografischen, den Einzelfall beschreibenden System- modellierung. Bald konnte ich auch einige wichtige Forscher auf dem Gebiet der Systemtheorie und der komplexen Systeme persönlich kennenlernen. Neben Literatur zur Klinischen Psychologie verschlang ich alles zur Systemtheorie und zur Systemischen Therapie, dessen ich habhaft werden konnte. Die erste Begegnung mit dem Thema «Selbstorganisation» erfolgte über Erich Jantsch. Sein Buch «Die Selbstorganisation des Universums» fand ich faszinierend. Entscheidend war die Begegnung mit Prof. Haken und der von ihm entwickelten Synergetik, die mich nachhaltig und bis heute geprägt hat. Je mehr ich mich in die Faszination dieser transdisziplinären Welt hineinbegab und je mehr spannende neue Themen und Menschen ich kennenlernte, umso mehr entfernte ich mich von der Welt der akademischen Psychologie – was nicht immer karriereförderlich war. Schliesslich aber bin ich dem Paradigma – so würde ich es heute bezeichnen – der komplexen Systeme und der Selbstorganisation treu geblieben und bereue das nicht.

Ihr Wirken konzentriert sich seit Jahrzehnten auf die wissenschaftliche Erforschung der Wirksamkeit von Psychotherapie. Wie würden Sie den aktuellen Forschungsstand im Allgemeinen beschreiben?

Der Forschungsstand zur Wirksamkeit der Psychotherapie ist durchaus uneinheitlich. Zum einen scheint es seit den grossen Meta-Analysen über Effektstudien gesichert zu sein, dass Psychotherapie zumindest im Allgemeinen wirkt. Diese Sicherheit scheint in letzter Zeit wieder ins Wanken zu geraten, wenn man sich neue Meta-Analysen und methodenkritische Arbeiten ansieht, welche zu evidenzbasierten Ansätzen wie der kognitiv-behavioralen Therapie vorgelegt wurden. Ein Problem ist bei den vergleichenden Effektivitätsstudien, dass die Therapieansätze, die verglichen werden, hinsichtlich ihrer Merkmale schlecht definiert sind. Vorgehensweisen, die in einer Studie dem Ansatz A zugerechnet werden, gelten in einer anderen Studie als Merkmal des Ansatzes B. Bei genauerer Betrachtung gibt es auch für die Systemische Therapie kein notwendiges und auch kein hinreichendes Merkmal, um diesen Ansatz klar zu definieren und von anderen Richtungen abzugrenzen.

Auch wenn man nicht in Zweifel ziehen mag, dass Psychotherapie im Durchschnitt wirkt, stellen sich doch verschiedene Fragen, zum Beispiel zur Nachhal- tigkeit der Effekte über das Ende einer Behandlung hinaus, zu den interindividuellen Unterschieden der Effekte, zu möglichen Drop-outs und Verschlechterungen. Auch gibt es berechtigte Zweifel daran, ob die Effekte der Therapie durch die eingesetzten Behandlungsmethoden zustande kommen oder durch andere Faktoren und Prozesse. Die Forschung zu unspezifischen Wirkfaktoren weist darauf hin, dass vor allem Klientenfaktoren wie intrinsische Veränderungsmotivation, Ressourcen und Kompetenzen und extratherapeutische Bedingungen in der Lebenswelt der Klienten*innen einen deutlich grösseren Beitrag zur Wirksamkeit leisten als Behandlungstechniken – vor allem als manualisierte Techniken.

«Wir sehen den Fortschritt von Therapien weniger als Reaktion auf Interventionen, sondern als selbstorganisierenden Prozess.»

 

Wenn man die Befunde zu den nicht technikbezogenen Wirkfaktoren ernst nimmt, dann sind es vor allem die Bedingungen jedes einzelnen Therapiefalls und jeder einzelnen therapeutischen Begegnung, die über die Effektivität und das Gelingen eines Prozesses entscheiden. Es ist also dieser spezifische Klient, diese spezifische Therapeutin, dieses spezifische Umfeld, auf das es ankommt. Damit ist klar, dass die Therapieverläufe und -ergebnisse im Einzelfall angeschaut werden müssen, weil sie auch im Einzelfall aus dem nichtlinearen Zusammenwirken der beteiligten Faktoren und Bedingungen entstehen. Jeder Verlauf ist anders, individuell und komplex. Es stellt sich damit weniger die Frage, ob Psychotherapie an sich wirkt, sondern ob diese konkrete Psychotherapie wirkt und wie sie verläuft.

Wo liegen Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte?

Ein Schwerpunkt liegt in der Frage, wie Psychotherapie funktioniert. An unserem Institut haben wir an einer Theorie der Psychotherapie gearbeitet, welche das nichtlineare Zusammenspiel einiger wichtiger Faktoren der psychischen Entwicklung von Klienten*innen formal, das heisst in mathematischen Gleichungen, darstellt und es damit möglich macht, psychothera- peutische Verläufe am Computer zu simulieren. Was es zu erklären gilt, ist nicht nur der Effekt, sondern auch der Prozess, der oft sprunghafte Musterwechsel und chaotische, das heisst komplexe und nur begrenzt vorhersehbare Dynamiken aufweist. Berücksichtigt
man den von den Klienten*innen erlebten «Input» – das heisst ihre konkreten Erfahrungen und deren Impact auf erlebte Therapiefortschritte oder ihre Verän- derungsmotivation, einige Persönlichkeitsmerkmale und Kompetenzen, den Verlauf der therapeutischen Beziehung und die Startbedingungen der Faktorendynamik –, so kommt der simulierte Therapieverlauf dem tatsächlich gemessenen erstaunlich nahe. Die genannten Bedingungen des Einzelfalls erlauben es, die Therapie spezifisch an die Klientinnen*innen anzupassen.

Das Auftreten von chaotischen Dynamiken und kritischen Instabilitäten im Verlauf von Psychotherapien legt uns nahe, Entwicklungen individuell zu be- trachten und das Vorgehen auf den einzelnen Prozess abzustimmen, was zu einer personalisierten Psychotherapie führt. Hierfür haben wir das Internet- und App-basierte «Synergetische Navigationssystem» entwickelt, welches mithilfe von meist täglichen Selbsteinschätzungen der Klienten*innen Verlaufsmuster sichtbar macht. Die Therapeuten*innen können am Bildschirm sehen, wie sich der Prozess entwickelt, ob er sich einer kritischen Instabilität nähert, wie unterschiedliche Facetten des Erlebens der Klienten*innen aufeinander bezogen sind und welche Muster sie realisieren. Diese aktuellen Prozessmuster werden mit den Klienten*innen regelmässig besprochen und in die weitere Therapieplanung einbezogen.

Ein weiterer Aspekt unserer Forschung richtet sich auf Veränderungen neurobiologischer Aktivitätsmuster im Therapieverlauf, wobei es hier Projekte zu Zwangsstörungen und zu Depression gibt. Schliesslich führen wir auch Praxisprojekte mit verschiedenen Kliniken durch, bei denen es um die Anwendung des synerge- tischen Prozessmanagements bei unterschiedlichen Patientengruppen geht. Die Methode der idiografischen Systemmodellierung, ein detailliertes grafisches Verfahren der systemischen Fallkonzeption, wurde dabei weiterentwickelt. Systemmodelle lassen sich nun auch am Smart Board oder an einem Computer- bildschirm gestalten und bearbeiten.

Wie unterscheidet sich das alles von einem klassischen diagnose- und störungsorientierten medizinischen Standardmodell?

Eine Klassifikation in diagnostische Kategorien ist für das systemische Paradigma weder zu wissenschaftlichen noch zu praktischen Zwecken notwendig. Die explizite Einzelfall- und Prozessorientierung führt zu einer personalisierten Therapie, welche die persön- lichen Entwicklungsprojekte der Klienten*innen optimal fördert. Das erlaubt eine Ent-Pathologisierung und wechselt den Fokus von der Klassifikation zur Prozessdiagnostik. Diagnosen können als Patientenmerkmale berücksichtigt werden, wenn es für bestimmte Fragestellungen sinnvoll erscheint, müssen aber nicht. Während das medizinische Modell Interventionen und Behandlungsstrategien vorwiegend an der Diagnose festmacht, orientiert sich ein systemisches Vorgehen mit seinen Mikroindikationen an der Fallkonzeption und am Prozess. Die Interventionen werden nach bestimmten Kriterien passgenau ausgewählt, wobei es zunächst mal keine Einschränkung der wählbaren Interventionen gibt. Das bedeutet, dass ein systemisches Vorgehen nicht über bestimmte Arten von Intervention definierbar ist, sondern über die Art der Prozessgestaltung. Grundsätzlich sehen wir den Fortschritt von Therapien weniger als Reaktion auf Interventionen im Sinne eines Input-Output-Mechanismus, sondern als selbstorganisierenden Prozess der Klienten*innen.

Kann man psychotherapeutische Effekte zum Beispiel auch mit neurobiologischen Methoden messen?

Ja, wir können psychotherapeutische Effekte und auch Prozesse mit neurobiologischen Methoden messen. Im Grunde eignen sich dafür alle Verfahren, welche neurophysiologische Prozesse und funktionelle Neuroanatomie nichtinvasiv erfassen. Wenn Psychotherapie die Kognitions-Emotions-Muster und das Verhalten ändert, dann müsste sich auch die entsprechende Physiologie und Neurodynamik ändern – was offensichtlich der Fall ist. Effekte finden sich nicht nur im zentralen Nervensystem, sondern in verschiedenen physiologischen und biochemischen Systemen des Körpers. In einer eigenen Studie zur Therapie von Zwangsstörungen konnten wir zeigen, dass sich neuronale Aktivierungsmuster im Therapieprozess ähnlich diskontinuierlich wie psychologische Verläufe ändern, sich Ordnungsübergänge also synchron in der neuronalen Aktivierung und in der mentalen Dynamik ereignen.

Inzwischen richtet sich das Forschungsinteresse nicht mehr nur auf die lokale Aktivierung neuroanatomischer Strukturen, sondern auch und vor allem auf die funktionelle und effektive Netzwerkdynamik des Gehirns. Im Bereich der funktionellen Konnektivität gibt es inzwischen eine hoch entwickelte Methodologie der Modellierung von dynamischen Synchronisationsmustern zwischen Hirnarealen, die im Ruhezustand ebenso wie mit spezifischer Stimulation beobachtet werden. Ein Befund zeigt zum Beispiel, dass sich eine pathologisch eingeschränkte, rigide Funktionsweise neuronaler ebenso wie psychologischer Systeme im Laufe einer Therapie flexibilisiert und wieder adaptiver wird.

«Mir selbst geht es um den systemischen Ansatz als Wissenschaftsparadigma.»

Nutzt man Marker wie Hautleitfähigkeit, Puls, Atmungsfrequenz oder die Herzdynamik, so können Veränderungen auch im Alltag der Klienten*innen oder während Therapiesitzungen erfasst werden. Derartige Untersuchungen können drahtlos durchgeführt werden. Inzwischen stehen auch kontaktoptimierte drahtlose Geräte zur Verfügung, mit denen die neuronale Synchronisation von Therapeut*in und Klient*in während der therapeutischen Kommunikation erfasst und ana- lysiert werden kann.

Ihre Arbeit war die Grundlage, dass die systemischen Therapien in Deutschland seit 2008 wissenschaftlich anerkannt sind. Was war dafür entscheidend?

Das ist zu kurz gesagt. In Deutschland fand zwar die wissenschaftliche Anerkennung im Jahr 2008 statt, die sozialrechtliche Anerkennung aber erst im Jahr 2018. Letztere bedeutet nun, dass man systemische Therapien über Krankenschein abrechnen kann und dass Ausbildungen zum approbierten Psychotherapeuten*in mit Schwerpunkt «Systemische Therapie» möglich werden. Ich war Ende der 1990er-Jahre beteiligt und habe den ersten Antrag auf wissenschaftliche Anerkennung geschrieben. Der Antrag wurde abgelehnt. Problematisch erschien mir schon damals, welche Ansätze als «systemisch» gelten sollten, und damit, welche Studien inkludiert werden sollten. Die durchgeführten Therapien, die sich in den Studien selbst als «systemisch» bezeichneten, waren sehr heterogen und zum Teil widersprüchlich. Auf jeden Fall erfolgten später – nach meinem Antrag – weitere Stürme auf die Festung, bis sie schliesslich zehn Jahre später nachgab. Mir selbst geht es, wie schon ausgeführt, inzwischen weniger um einzelne Therapieschulen, sondern um Wege zur Integration und um den systemischen Ansatz als Wissenschaftsparadigma.

Können wir aufgrund dieser Anerkennung davon ausgehen, dass damit die Wirksamkeit der systemischen Therapien unbestritten ist?

Unbestritten sind die wissenschaftliche und die sozialrechtliche Anerkennung in dem Sinne, dass die entsprechenden Entscheidungsprozesse nicht mehr in der Schwebe sind, sondern abgeschlossen. Ob damit auch die Wirksamkeit der systemischen Therapien unbestritten ist, das steht auf einem ganz anderen Blatt. Kein Therapeut und keine Therapeutin kann seine Arbeit als wirksam bezeichnen, nur weil er einer anerkannten Richtung angehört. Was ist überhaupt Wirksamkeit? Die Methodendebatte der letzten Zeit zieht zunehmend die Aussagekraft von Punktmessungen in Zweifel, weil bio-psycho-soziale Systeme hochgradig dynamisch sind und man konsequenterweise diese Dynamik berücksichtigen müsste, auch um Therapieeffekte darzustellen. Viele psychologische Funktionsänderungen drücken sich gar nicht in veränderten Mittelwerten aus, sondern in veränderten Prozessmustern und spezifischen dynamischen Zuständen, die wir als Attraktoren bezeichnen. Zudem gehen standardisierte und normierte Messungen oft an dem vorbei, worum es den einzelnen Klienten*innen geht. In einem wissenschaftlichen Sinn können wir also keineswegs von der Wirksamkeit der Systemischen Therapie reden, nicht zuletzt, weil überhaupt nicht klar ist, was die «Systemische Therapie» überhaupt sein soll. Das klingt jetzt schlimmer und defaitistischer, als es ist, denn je weiter wir mit dem

«Standardisierte und normierte Messungen gehen oft an dem vorbei, worum es den einzelnen Klienten*innen geht.»

Prozessmonitoring und der Modellierung und damit dem Verständnis von Psychotherapie kommen, uns also einer personalisierten Therapie nähern, umso unwichtiger werden ein- zelne Schulen. Verstehen wir das als erfreuliche Botschaft auf dem Weg zu einer Professionalisierung, die vor Jahren schon von Klaus Grawe angemahnt wurde.

Dient die Forschung primär der wissenschaftlichen Abstützung respektive Legitimation dessen, was wir aus der Erfahrung bereits wissen? Oder bringt Ihre Forschung zusätzliche Erkenntnisse für die psychotherapeutische Praxis?

Wenn Forschung nur reproduziert und legitimiert, was wir ohnehin schon wissen – Dietrich Dörner nannte das einmal «Wie meine Oma auch schon sagte»-Forschung –, dann ist sie langweilig und trivial.  Gerade in der Psychotherapie wurde und wird viel Legitimationsforschung betrieben, denn Hunderte und Tausende verschiedene Richtungen, Ansätze, Verfahren und störungsspezifische Behandlungspakete wollten ja ihre Wirksamkeit nachweisen und sich damit legitimieren. Das ist nicht unbedingt trivial – und in den ersten Jahrzehnten der jungen Disziplin Psychotherapie musste man sich ja gegen die Dominanz der biomedizinischen und pharmakologischen Behandlungsangebote behaupten und sich eine Stimme verschaffen. Trivial ist allerdings, dass sich die meisten Ansätze wirksamer zeigten als gar nichts, aber kaum wirksamer als ernst zu nehmende Alternativen (sog. «Dodo-Bird-Effekt»).

Interessanter ist aus meiner Sicht die gesamte Forschung zu Prozessen und zur Funktionsweise von Psychotherapie. Ob nun speziell meine Beiträge und die meiner Arbeitsgruppen zusätzliche Erkenntnisse für die Praxis bringen, müssen eigentlich andere beurteilen. Ein Beitrag für die Praxis sollte das synergetische Prozessmanagement von Therapie und Beratung sein; dieses beinhaltet eine systemische Fallkonzeption mit Ressourceninterview und Systemmodellierung, das Synergetische Navigationssystem als Internet- und App-basiertes Prozessmonitoring mit implementierten Analyseverfahren der nichtlinearen Therapiedynamik, die Nutzung individualisierter Prozessfragebögen und entsprechende Feedbackgespräche im Verlauf.

Sie haben sich auch intensiv mit künstlicher Intelligenz auseinandergesetzt. Kann man die menschliche Seele modellieren? Könnte in Zukunft die künstliche Intelligenz in der Psychotherapie eine Rolle spielen?

Sehr intensiv habe ich mich mit künstlicher Intelligenz noch nicht auseinandergesetzt, ich nähere mich dem Thema an. Ich habe allerdings den Eindruck, diese Technologie entwickelt sich schneller, als ich mich ihr annähern kann. Wahrscheinlich ist es hier wie mit der Digitalisierung, es kommt darauf an, wie wir sie nutzen. Da künstliche Intelligenz mit lernfähigen neuronalen Netzen eine Stärke in der Erkennung von Mustern hat, könnten wir damit alle möglichen Prozessmuster identifizieren, die mit unterschiedlichen Therapieeffekten assoziiert sind. Hierfür brauchen wir umfassendes Datenmaterial, das es in der Tat schon gibt. Mit künstlicher Intelligenz könnte man auf Grundlage des von uns entwickelten Simulationssystems von Psychotherapie mögliche Reaktionen von spezifischen Klienten*innen auf bestimmte Interventionen in Simulationsläufen testen. Bereits jetzt können wir Phasenübergänge identifizieren, was auch zu einer verbesserten Identifikation von Frühwarnsignalen bei Musterwechseln führt, in Richtung sprunghafter Therapiefortschritte oder in Richtung Verschlechterung oder Suizidrisiko.

Man kann die menschliche Seele ebenso wie das menschliche Gehirn modellieren, entsprechende Versuche gibt es ja schon seit etlichen Jahren. Wenn wir das für prinzipiell unmöglich halten würden, könnten wir auch keine Theorie der Psychotherapie entwickeln, ja schliesslich auch keine Psychologie betreiben. Allerdings müssen wir uns immer bewusst sein, zu welchen Zwecken wir solche Modelle entwickeln, wo die Grenzen liegen und was einem Modell im Vergleich zur viel grösseren Komplexität realer bio-psycho-sozialer Systeme prinzipiell verschlossen bleibt.

Klar kann ich sagen, was mir nicht vorschwebt, nämlich eine Computer- oder Internet-Therapie ohne Therapeut*in. Die therapeutische Begegnung und Kommunikation halte ich für essenziell, alle neuen Möglichkeiten des computerassistierten Prozessfeedbacks sollten diese Begegnung unterstützen, nicht ersetzen. Die Letztinstanz für alle Urteile und Entscheidungen muss der Mensch bleiben.

Herzlichen Dank für das Gespräch.

 

Prof. Dr. Dr. Günter Schiepek leitet das Institut für Synergetik und Psychotherapieforschung an der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität Salzburg und ist dort sowie an der Ludwig-Maximilians- Universität München Professor für Psychologie. Er veröffentlichte eine Vielzahl von Fachartikeln und Büchern, die zu den Standardwerken der systemischen Psychologie und Psychotherapie zählen.

Das Gespräch mit Günter Schiepek ist publiziert im IEF-Magazin Nr. 11, Herbst 2020.