Hugo Grünwald

«Wer sich nicht anpasst,
wird wie ein Dinosaurier aussterben.»

Wie wird Qualitätssicherung zu einem Teil der professionellen Haltung in der Psychotherapie? Welchen Mehrwert hat Qualitätssicherung auf der praktischen, therapeutischen Ebene? Anita Hardegger erläutert im Gespräch mit Prof. Dr. Hugo Grünwald, warum die Psychotherapie nicht um eine systematische Wirksamkeitsmessung herumkommt.

 

Sie vermitteln in der postgradualen Weiterbildung «Systemische Psychotherapie» das Thema Qualitätssicherung. Wenn wir darüber sprechen wollen, wie müsste der Titel dieses Interviews
lauten, dass die Lesenden diese Seiten nicht überlesen?

Würde vielleicht «Qualitätssicherung wird immer mehr kommen!» passen? Oder wie wäre es mit: «Achtung! Ohne Qualitätssicherung geht gar nichts mehr!» Meine Hauptbotschaft ist, dass die Qualitätssicherung in der Psychotherapie zu einer Haltung der Professionalität wird. Es geht mir darum, dass wir unsere eigene Tätigkeit systematisch und intersubjektiv überprüfen. Die psychotherapeutische Praxis betont gerne, dass ihr die Sicherung der Qualität wichtig sei, sie scheut aber immer noch den dafür notwendigen Aufwand. Das Problem ist, dass die Grundhaltung durchaus vorhanden ist, dass es aber noch an konkreten Handlungen fehlt.

Wie schaffen Sie es immer wieder, die Studierenden für das Thema Qualitätssicherung und Wirksamkeitsmessung zu begeistern?

Begeisterung ist hier wohl ein übertriebener Begriff. Wenn ich die Studierenden zum Beispiel frage, was der Unterschied zwischen esoterischen und psychotherapeutischen Dienstleistungen sei, dann kommt schnell die Antwort: Wir wirken und wir arbeiten auf wissenschaftlicher Basis. Aber was zeichnet Wissenschaft eigentlich aus? Und wie können wir beweisen, dass unsere Arbeit tatsächlich wirkt? Gerne wird die Wirkung dann aus der Sicht des Therapierenden geschildert, aber da fehlt die intersubjektive Sichtweise. Die Studierenden kommen bei diesem Thema in ein mittelmässiges Dilemma, da versuche ich anzusetzen.

«Qualitätssicherung in der Psychotherapie ist eine Haltung der Professionalität.»

Warum ist der wissenschaftliche Beweis der Wirksamkeit von Psychotherapie so wichtig? Woher kommt dieser gesellschaftliche Legitimationsdruck?

Zuallererst fusst dieser Druck auf der gesetzlichen Ebene. Die staatlichen Regelungen haben klar festgehalten, dass Dienstleistungen des medizinischen Gesundheitssystems zwingend nachweisen müssen, dass sie wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich sind. Das bedeutet konkret, dass immer nachgewiesen werden muss, dass eine Behandlung der zweckmässigste, effizienteste, das heisst kostengünstigste und wirksamste Weg zur Problemlösung darstellt.

Warum steht jetzt aber die Psychotherapie unter einem besonderen Legitimationsdruck? Psychotherapie war vor vierzig Jahren noch etwas Randständiges, das eher negativ bewertet wurde. Das hat sich grundlegend verändert. Psychotherapie wird immer gesellschaftsfähiger. Ich habe das Gefühl, dass gerade in der Schweiz so viel psychologisiert wird wie noch nie. Da hat es einen richtigen Paradigmenwechsel gegeben. Aber der Druck auf die Psychotherapie bleibt. Zum Beispiel werden jetzt die Mehrkosten langsam sichtbar, die durch das neue Anordnungsmodell in der Psychotherapie entstehen. Das führt unweigerlich zu neuerlichen Diskussionen und wird die Psychotherapie dazu zwingen, noch deutlicher zu zeigen, dass sie wirklich wirkt. Bestimmte politische Richtungen vertreten immer noch die abwertende Meinung, es gehe bei Psychotherapie um «Wohlfühltherapien».

«Es braucht eine Rückkoppelung der Resultate in den Therapieprozess.»

Deshalb vertrete ich eine selbstbewusste und offensive Haltung. Wir müssen doch klar sagen können: Wir haben nicht nur wissenschaftlich abgesicherte, wirksame Methoden, sondern wir kontrollieren dieWirksamkeit unserer Praxis kontinuierlich vor Ort. Wenn wir unsere Therapien systematisch nach exakten wissenschaftlichen Kriterien auswerten, dann bekommen wir die notwendigen Zahlen um argumentieren zu können und sprechen damit auch die Sprache des ökonomischen Systems. Denn es ist ein Fakt: Wir sind gemäss Gesetz diesen Wirksamkeits- und Wirtschaftlichkeitskriterien unterworfen.

Können Sie nachvollziehen, dass es einigen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten auch schwerfällt, diesen Schritt machen zu müssen?

Das verstehe ich sehr gut. Das Problem ist, dass dies ideologiegetriebene Auseinandersetzungen sind. Selbstverständlich können wir uns dieser Anpassungsleistung auch verweigern. Wenn wir uns aber diesem Druck nicht stellen, werden wir ganz praktisch verlieren und aus dem System geworfen. Und dieses System tickt unter anderem ökonomisch. Da bin ich ganz prag- matisch. Diese Überbaudebatten sind gut und recht, da gibt es viel Für und Wider, aber am Ende müssen wir uns entscheiden, ob wir uns diesen Anforderungen stellen oder nicht. Wer sich nicht anpasst, wird wie ein Dinosaurier aussterben.

Was sind die besonderen Herausforderungen für die Evaluation der systemischen Psychotherapie?

Wenn wir systemische Psychotherapie als eine Therapie der interpersonellen Themen und Probleme verstehen, dann arbeitet sie auch häufig in einem Setting mit mehreren Personen, Familien, Paaren oder Gruppen. Wenn wir nun Veränderungen in Gruppen bewerten und messen wollen, dann bedeutet das einen deutlichen Mehraufwand. Die Qualitätssicherung ist bei den Methoden anderer Therapierichtungen viel einfacher, da sich diese ganz auf den Einzelnen fokussieren.

Die konstruktivistische Sichtweise der systemischen Psychotherapie betont stark die subjektive Sichtweise. Dieses Wertesystem stellt sich grundsätzlich in Widerspruch zur klassischen, linearen Ursache-Wirkung-Denkweise, die den traditionellen evidenzbasierten Überprüfungsvarianten zugrunde liegt. Dieses Werteproblem muss die systemische Psychotherapie überwinden, um sich der Überprüfung überhaupt stellen zu können.

Können Sie eine kurze Übersicht über die verschiedenen Methoden der Qualitätssicherung in der Psychotherapie geben?

Zentral für die Qualität von Psychotherapie ist sicher die Strukturqualität von gut ausgebildeten Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, die grossmehrheitlich in wissenschaftlich evaluierten Methoden ausgebildet sind. Dazu kommt traditionellerweise Supervision, Intervision und natürlich die Weiterbildung. Diese «kontrollierte Praxis», wie es Klaus Grawe formuliert hat, gewährleistet aber nicht, dass die Behandlung vor Ort dann auch so wirkt, wie sie sollte. Zudem ist die Psychotherapie weitgehend mehr- oder multimethodal unterwegs, denn zu einer Grundorientierung kommen weitere Vertiefungen in unterschiedlichen Methoden dazu.

Für eine traditionelle Messmethodik braucht es bestimmte Kriterien, wie zum Beispiel die Symptomveränderungen, die Veränderungen auf der interpersonellen Ebene aus der Sicht der Klienten sowie Veränderungen auf der Ebene der Lebensqualität. Wichtig ist mir, dass als weitere Messgrösse die Ziele dazukommen. Welche Ziele hat jemand zu Beginn der Therapie, und welche Aufträge werden formuliert? Regelmässige Zielüberprüfungen gehören sicher auch zu den wichtigen Kriterien einer traditionellen Qualitätskontrolle. All das kann gut mit klassischen Fragebogen erfasst werden.

«Dank der Aussenperspektive kann ein gegenseitiges Reflektieren und Validieren stattfinden.»

Was zeichnet die Qualitätsmessung mit dem «Synergetischen Navigationssystem» (SNS) aus, mit dem das IEF seit letztem Jahr arbeitet?

Ich bin überzeugt, dass SNS eine sehr gute Sache ist. Dieses System ist sehr breit einsetzbar, da es sich an den generischen Prinzipien der Selbstorganisation orientiert. Und diese generischen Prinzipien bilden ein schulenübergreifendes Veränderungssystem. In der Darstellung ist SNS wie ein bildgebendes Verfahren. So kann am Bildschirm schnell und praxisnah erfasst werden, wo es Veränderungen gibt und wo keine. SNS kann sicher systemische Prozesse sehr gut abbilden. SNS funktioniert auf einer App, was der jüngeren Generation sicher zusätzlich entgegenkommt. Aber die Implementierung braucht natürlich eine nicht zu unterschätzende Vorleistung.

Entscheidend aber ist, dass SNS sowohl ein Prozess- wie auch ein Ergebnisinstrument ist. Mit SNS wird der Therapieprozess laufend integral und transparent evaluiert. Patient*innen und Therapeut*innen können die Veränderungsprozesse anschauen, diskutieren und zusammen durch den Prozess navigieren. Genau so muss gelingende Qualitätssicherung funktionieren: Es braucht eine Rückkoppelung der Resultate in den Therapieprozess.

Das wäre dann der Mehrwert, der die Qualitätssicherung für die psychotherapeutische Praxis bringen kann?

Der wichtigste Mehrwert ist, dass eine zusätzliche, neue Erkenntnisquelle dazukommt, die es dem Therapeut*innen- und dem Klient*innensystem ermöglicht, mit einem Dritten, also den Resultaten aus den Beurteilungen, die man sich gegenseitig macht, einen Diskurs führen zu können. Das ist Prozessnavigation im besten Sinne. Dank der Aussenperspektive kann auf einer Metaebene ein gegenseitiges Reflektieren und Validieren stattfinden. Es herrscht eine Haltung der totalen Transparenz. Ein solches Qualitätssicherungssystem schafft für die Therapeut*innen einen Mehrwert, weil es zu einem Teil der professionellen Augenhöhehaltung wird. Deshalb bin ich überzeugt, dass ein Qualitätssicherungssystem das auch Prozessevaluationen beinhaltet, unbedingt in die Psychotherapieausbildung integriert werden sollte.

Wie würden Sie die Entwicklung der Wirksamkeitsmessung von Psychotherapie – insbesondere systemischer Psychotherapie – in den letzten zehn, zwanzig Jahren beschreiben? Und wohin geht der Trend?

Ich habe schon vor zwanzig Jahren gesagt, die Qualitätssicherung wird sich jetzt dann gleich durchsetzen. Es ist aber immer noch nicht geschehen. Das Anordnungsmodell bringt jetzt sicher einiges in Bewegung. Zudem stelle ich erfreut fest, dass die jungen Klient*innen mit sehr viel Vorinformationen zu uns kommen, viele kritische Fragen stellen und wirklich wissen wollen, um was es geht.

Dass Psychotherapie über die Grundversicherung abgerechnet werden kann, ist sicher ein Meilenstein. Aber ich bin relativ sicher, dass irgendwann die Ökonomie, sprich die Krankenkassen, und das politische System merken, wie gross der tatsächliche Bedarf an Psychotherapie ist. Das wird dazu führen, dass dann noch sehr viel genauer hingeschaut wird, was an Psychotherapie notwendig, indiziert und wirklich wirksam ist. Deshalb dürfen wir Psychotherapeut:innen nicht warten, bis wir unsere Legitimation beweisen müssen, sondern wir sollten in «vorauseilendem Gehorsam» das Feld selber besetzen und selbstbewusst definieren, was für uns Qualität ausmacht. Das können wir ganz gelassen angehen, denn in allen Studien, die ich begleitet habe, waren die Resultate ähnlich: Wir sind ziemlich gut! Zum Beispiel liegen die Werte der Zufriedenheit mit der Psychotherapie immer über 90%. Wir müssen uns nicht verstecken! Ich habe viel mehr Angst vor Fremddefinition mit irrationalen und unrealistischen Vorgaben, die uns in die Defensive drängen.

Herzlichen Dank für das Gespräch.

 

Prof. Dr. Hugo Stephan Grünwald ist eidg. anerkannter Psychotherapeut und unterrichtet am IEF in der postgradualen Weiterbildung «Systemische Psychotherapie». Er hat den Studiengang «Systemische Psychotherapie mit kognitiv-behavioralem Schwerpunkt» an der ZHAW aufgebaut und viele Jahre geleitet. Zudem ist er Co-Autor des Buches «Die Methoden-Matrix der Psychotherapie» (Beltz Verlag, 2020).