Katja Wichser IEF

«Im Kindesschutz ist Beziehung das A und O.»

Was brauchen Fachleute, um mit Fragen des Kindesschutzes gut umgehen zu können? Was ist nötig, damit sich ein Kind gut entwickeln kann? Wann liegt eine Gefährdung des Kindeswohles vor? Katja Wichser, Psychotherapeutin und Dozentin am IEF, geht im Gespräch mit Marianne Egloff auf die Herausforderungen rund um den Kindesschutz ein.

 

Marianne Egloff: Du bist am IEF in der Weiterbildung «Systemisches Elterncoaching» verantwortlich für das Thema Kindesschutz. Was verbindet dich mit diesem Thema?

Katja Wichser: In meiner Arbeit habe ich mich immer wieder mit den Fragen beschäftigt: Wie geht es Familien, wie geht es Kindern, wie entwickeln sich Kinder und ganze Familien gut? Ich bespreche diese Fragen auch mit Eltern: Was muss stattfinden, damit Kinder in einer guten Umgebung aufwachsen und sich darin gut entwickeln können? 

Im therapeutischen Bereich ist das meist schon ein Thema bei der Anmeldung. Wer sich bei einer Psychotherapeutin meldet, der hat Anliegen oder eine Not, und die werden formuliert. Diese Ausgangslage im therapeutischen Setting ist sicher ein Vorteil. Zudem habe ich Zeit, um eine Beziehung aufzubauen. Ich kann viele Fragen stellen, Vertrauen aufbauen und die Familien als Fachperson begleiten. Wenn jemand Unterstützung benötigt, kann ich dies benennen, ohne zu riskieren, die Beziehung zu verlieren.

Gibt es da Unterschiede zum beraterischen Alltag?

Ja, in einer Erziehungs- oder Familienberatungsstelle lernt man die Familien häufig über andere, teilweise niederschwellige Fragestellungen kennen. Die Herausforderung besteht darin, zu erkennen, wenn es einer Familie trotz niederschwelliger Fragestellung nicht mehr gut genug geht. Wann muss ich genauer nachfragen? Worum geht es in dieser Familie? Wo ist eine Weiterentwicklung der Familie nicht mehr möglich? Aber die Art und Weise, wie man mit einer Kindeswohlgefährdung umgeht, wie man Familien begegnet, geschieht aus der gleichen Haltung heraus.

Welche Rolle spielen die unterschiedlichen oder veränderten Familienwerte für die Arbeit im Kindesschutz?

In diesem Zusammenhang ist es wichtig, zu erwähnen, dass der Kindesschutz oft ein Thema ist, wenn wir es mit Eltern zu tun haben, die in einem Paarkonflikt sind und in diesem Moment die Bedürfnisse ihrer Kinder nicht mehr wahrnehmen können. Die Eltern sind von diesem Konflikt selbst betroffen und so in Not, dass dadurch auch die Kinder in Not geraten. Wir wissen aus der Praxis, dass Konfliktsituationen bei Regenbogen-, Patchwork- und Reproduktionsfamilien häufig intensiver sind. In diesen Konstellationen streiten mehr Menschen mit und rechtliche Themen rücken in den Fokus. Das Kindeswohl rückt gleichzeitig schneller in den Hintergrund. 

Grundsätzlich gibt es aber keinen kausalen Zusammenhang zwischen Familienformen und Kindesschutz. Eine Kindeswohlgefährdung kann in allen Familienmodellen, Schichten und Kulturen ein Thema sein. Wichtig ist, dass Eltern ihren Kindern Beziehung anbieten und die Bedürfnisse der Kinder erkennen können. Wenn das gelingt, so ist die Familienform sekundär.

Kindesschutz steht also oft im Kontext von Konflikten. Was brauchen die involvierten Fachleute an besonderen Qualifikationen, um mit dem Thema Kindesschutz verantwortlich umgehen zu können?

Ich bin der Überzeugung, dass im Kindesschutz Sorgfalt und Menschlichkeit entscheidend sind. Es braucht viel Neugier, um das Gegenüber kennenzulernen, viel Authentizität, um sukzessive Vertrauen und Beziehung aufbauen zu können, und ich betone es nochmals, es braucht viel Menschlichkeit. Zentral scheint mir auch die Haltung und die Klarheit darüber, wie ich selbst zu den Themen des Kindesschutzes stehe. Wenn ich zum Beispiel eine Gefährdungsmeldung mache, dann ist entscheidend, was ich dabei vermittle. Meine Haltung kann entweder aussagen, dass das gar nichts Gutes ist und jetzt etwas ganz Schlimmes passiert. Oder ich kann als Fachperson aussagen, dass dieser Schritt für diese Familie eine Chance sein kann, dass sie dadurch Hilfe und Unterstützung bekommt. Weiter denke ich, dass vernetztes Denken und eine gute Vernetzung mit anderen Fachpersonen nötig sind. Es braucht viel Zeit und Sorgfalt der Fachleute in der Abklärung und Begleitung des Kindeswohls, was natürlich auch eine Ressourcenfrage ist. Die Arbeit im Kindesschutz benötigt immer wieder Mut, genau hinzuschauen und sich dabei Zeit zu lassen.

Welchen besonderen Beitrag kann die systemische Arbeitsweise in Bezug auf den Kindesschutz leisten?

In der systemischen Haltung gehen wir davon aus, dass wir unserem Gegenüber auf Augenhöhe begegnen, dass wir es als Fachperson mit unseren fachlichen Einschätzungen nicht besser wissen. Das A und O dieser Arbeit ist, unser Gegenüber in seiner Not ernst zu nehmen. In der systemischen Arbeit schauen wir auch immer wieder, wer kann welchen Beitrag leisten? Dafür ist eine gute Vernetzung mit anderen Fachpersonen sehr hilfreich. Wen brauche ich für die nächsten Schritte? Dann gemeinsam hinschauen und überlegen, was einer Familie weiterhelfen könnte. Die Vernetzung kann auch wichtig sein, um gemeinsam die ganze Not solcher Klienten besser tragen zu können.

Gerade im Kindesschutz ist die systemische Herangehensweise sehr hilfreich, so gehen wir nicht von irgendwelchen «Fixfertigprodukten» aus. Wir können die Fälle nicht anhand eines Leitfadens bearbeiten, so würden wir den Menschen nicht gerecht werden. Klar, wer im Kindesschutz arbeitet, muss auch die rechtliche Seite kennen. Aber wir dürfen nie vergessen, dass wir es mit Menschen zu tun haben.

Der Kindesschutz geniesst gesellschaftlich und politisch eine hohe Aufmerksamkeit. Viele Fachstellen kümmern sich darum. Trotzdem gehen die Fallzahlen nicht zurück, sondern nehmen vielmehr zu. Wie erklärst du dir dieses Phänomen?

Der Kindesschutz hat in der Schweiz einen tiefgreifenden Wandel erlebt. Mit der Schaffung der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB) wurde der Kindesschutz professionalisiert. Diese Veränderung im System hat dazu geführt, dass nicht nur die zuständige KESB, sondern auch andere Fachleute genauer hinschauen. Sie sind heute sensibilisiert. Auch wird das Kindeswohl über die Jahre hin gesehen heute mehr gewichtet.

Die vielen negativen Schlagzeilen der KESB in den Medien widerspiegeln nur einen ganz kleinen Teil der Realität. Das Bild, welches so vom Kindesschutz gezeichnet wurde, ist sicher nicht hilfreich. So macht die Arbeit der KESB heute vielen Menschen Angst, sie bringen sie mit negativen Konsequenzen und nicht mit Hilfestellungen in Verbindung.

Die Sorge vieler Eltern ist, dass ein Eingreifen der Behörden heisst, das Kind wird weggenommen oder platziert. In der Realität ist das aber im Gegenteil immer weniger der Fall. Das Ziel im Kindesschutz ist vielmehr, wie unterstützen wir die Familien, die in Not geraten sind? Die Eltern werden in Entscheidungen miteinbezogen und häufig werden Interventionen gemeinsam mit ihnen bestimmt.

Wie würdest du die Herausforderung der Fachleute beschreiben, die sich im professionellen Alltag mit Kindesschutz beschäftigen?

Es geht um eigene Haltungen und um die Haltung der Institutionen, in denen Fachleute arbeiten. Ich versuche in der Elterncoaching-Weiterbildung zu vermitteln, dass es wichtig ist, eine eigene Haltung zu entwickeln, was in diesem Kontext durchaus eine Herausforderung darstellt. Es ist immer auch eine subjektive Einschätzung, was ich als «gut genug» für das Wohl des Kindes halte. Beim Thema Kindesschutz gehen wir nicht von «optimal» aus, sondern immer davon, was gut genug ist, damit sich ein Kind seinem Alter entsprechend entwickeln kann. Es ist nun mal eine Realität, dass jedes Kind unterschiedliche Eltern und unterschiedliche Entwicklungsräume hat.

Wie wird eine Gefährdung des Kindeswohls überhaupt sichtbar? Wie können wir herausfinden, wie die Situation eines Kindes aussieht?

Ich bin fest davon überzeugt, dass es darum geht, zusammen mit den Eltern einen Weg zu finden. Ich finde es ungünstig, wenn wir auf Detektivarbeit aus sind. Das schafft kein Vertrauen, im Gegenteil. Ich möchte in meiner Arbeit Vertrauen schaffen, damit Eltern erzählen können. Damit sie sagen können, da läuft etwas nicht mehr gut, das ist schwierig bei uns. Das erzählt man erst jemandem, wenn man auch denkt, der kann das verstehen und das dann auch mit der Familie «stemmen». Aus einzelnen Symptomen kann ich noch nicht automatisch auf eine Gefährdung des Kindeswohls schliessen. Es geht darum, ein ganzheitliches Bild zu bekommen.

Wenn ein Kind zum Beispiel nicht passend angezogen ist, bedeutet das nicht direkt eine Gefährdung des Kindeswohls. Es geht um ein Zusammensetzen von verschiedenen Puzzleteilen. Es gilt abzuwägen, welche Risikofaktoren und welche Schutzfaktoren in einer Familie bestehen.

Wenn ich jetzt an den Schulalltag denke, so sind wir doch in der Pflicht, die Symptome zu erkennen, wenn ein Kind sich nicht entwickelt. Wir sehen die Bilder, die die Kinder malen, wir sehen vielleicht die blauen Flecken am Körper. Da wird etwas sichtbar, da sind wir doch darauf angewiesen, mit den Symptomen zu arbeiten.

Ja, auf diese Symptome reagieren wir sehr schnell. Das ist auch richtig so. Wir müssen aber auch davon ausgehen, dass viele Kinder eine hohe Resilienz haben. Dass sie lange keine Symptome zeigen, hat mit der enormen Anpassungsleistung zu tun, zu der Kinder fähig sind. Das sind dann die Kinder, die uns vielleicht durch die Maschen fallen, weil wir primär auf die akuten Symptome achten. Viel häufiger ist es aber, dass sich Kinder sehr lang anpassen. Gerade an diese Familien kommt man nur über die Beziehung an die Thematik heran. Das gilt für die Schulen ebenso. Im Kindesschutz ist Beziehung das A und O. Ohne Beziehung werde ich nicht «dahinter» sehen können – ausser wenn eine eindeutige, offensichtliche Gefährdung vorliegt.

Heisst das, wenn keine Symptome vorliegen, ist es fast nicht möglich, die Gefährdung eines Kindes zu erkennen?

Das würde ich nicht sagen. Ich denke, in diesen Fällen braucht es ein genaueres Hinschauen. Es benötigt mehr Beziehung, damit sich ein Kind noch besser äussern kann, damit wir auch bei kleineren Hinweisen nochmals nachfragen und genauer hinhören können. Aus meiner Erfahrung ist vieles möglich, wenn man mit der Familie dranbleibt und Zeit investiert.

Bei einer Gefährdungsmeldung an die KESB gibt diese meist eine Abklärung in Auftrag, um genauer hinzuschauen. Das kann bedeuten, dass Fachpersonen über einen längeren Zeitraum mit einer Familie im Kontakt sind und in den Familienalltag hineinschauen können. Deshalb sind die Gefährdungsmeldungen auch sehr sinnvoll, gerade bei Familien, bei denen wir immer wieder ein ungutes Gefühl haben und dieses nicht an eindeutigen Symptomen festmachen können.

Das ist wohl nicht so einfach. Wird eine Familie in einer solchen Situation nicht versuchen, sich von der besten Seite zu zeigen?

Klar will sich eine Familie von der besten Seite zeigen. Das macht ja auch Sinn. Da kommt jemand im Auftrag der Behörden, das macht natürlich Angst. Was passiert, wenn wir uns zeigen? Ich habe die Erfahrung gemacht, dass wir vieles sehen können, wenn wir es schaffen, in eine Beziehung zu kommen. Je besser wir im Kontakt sind, desto mehr lassen die Familien zu, dass wir auch Schwierigkeiten oder Überforderungen sehen dürfen.

Wie sieht das bei Kindern aus? Kinder wollen doch ihre Eltern nicht vor fremden Leuten blossstellen oder verraten. Welche Möglichkeiten haben wir hier?

Es ist ja auch nicht die Aufgabe des Kindes, seine Eltern anzuprangern. Gerade deshalb sollten wir mit den Eltern in eine Kooperation kommen. Wenn die Zusammenarbeit mit den Eltern nicht gelingt, wenn sie dichtmachen und ich auch nicht in eine Beziehung zu den Kindern komme, dann ist irgendwann der Punkt erreicht, dass wir Fachleute uns zusammen Gedanken machen müssen. Was könnte ein nächster Schritt sein? Braucht es eine Meldung an die KESB? Sind Sofortmassnahmen nötig?

In solchen Abwägungen sind wir wieder bei der Frage, was ist gut genug für die Kinder? Wie können die Kinder ihre Beziehung zu den Eltern leben? Welche Qualität hat die Eltern-Kind-Beziehung? Ab wann ist eine Situation für ein Kind schädlich? Das ist ein grosses Spannungsfeld, dem wir einerseits gerecht werden möchten, aber sicher nicht immer gerecht werden können.

Die Resilienz von Kindern bedeutet nicht, dass es in Ordnung ist, dass Kinder diese Anpassungsleistung erbringen müssen. Wenn die Situation des Kindes/der Familie als nicht gut genug beurteilt wird, dann ist es die Verantwortung von uns Fachleuten einzugreifen. Dann müssen wir für die Kinder und mit den Familien überlegen, was helfen könnte und nötig ist. Mit dem übergeordneten Ziel, dass Kinder sich gut entwickeln können.

Wenn du jetzt sozusagen als Schlusswort eine persönliche Quintessenz ziehst, was würdest du den Lesenden noch mitgeben wollen?

Ich würde mir für die Kinder und die Familien wünschen, dass wir Fachleute mehr Mut haben, das Kindeswohl in den Fokus der Beratungen zu stellen. Ich wünsche mir, dass wir uns nicht hinter irgendwelchen Leitfäden verstecken müssen und dabei die betroffenen Menschen vergessen. Auch ist es mir persönlich ein Anliegen, dass wir authentisch und menschlich bleiben.

 

Katja Wichser ist eidg. anerkannte Psychotherapeutin und arbeitet sowohl im beraterischen wie im therapeutischen Kontext. Sie hat ihre Therapieausbildung 2012 am IEF abgeschlossen und ist heute als Dozentin am IEF in der Weiterbildung «Systemisches Elterncoaching» für das Thema Kindesschutz verantwortlich.

 

Das Gespräch mit Katja Wichser ist publiziert im IEF-Magazin Nr. 9, Herbst 2019.