Monika Holzer, seit fünf Jahren leitest du die «Stelle für Mediation im Jugendstrafverfahren»
des Kantons Zürich. Wie seid ihr organisiert und welche Fälle bearbeitet ihr?
Seit 2011 gibt es die Fachstelle in dieser Form. Sie ist organisatorisch angegliedert an die Oberjugendan- waltschaft des Kantons Zürich. Im Moment sind wir drei Mediator:innen in Teilzeit und ein Sekretariat. Die Jugendanwält:innen der fünf regionalen Jugendanwaltschaften des Kantons machen eine Vorselektion, welche Fälle sich eignen könnten, und beauftragen uns mit den weiteren Abklärungen und der Durchführung der Mediation. Bei komplexeren Ausgangslagen gibt es oft einen vorgängigen Austausch. Wir bearbeiten die leichteren bis mittelschweren Delikte bei uns. Das sind zum Beispiel Gewaltdelikte wie Körperverletzungen oder Tätlichkeiten, Gruppendelikte wie Angriff oder Raufhandel oder auch mal ein Raub oder Sachbeschädigungen. Häufige Themen sind auch Nötigung, Drohung, Erpressung, Mobbing und auch Delikte gegen die sexuelle Integrität.
Welche Delikte kommen für eine Mediation nicht infrage?
Nicht möglich ist eine Mediation bei opferlosen Delikten, bei denen es keine Personen gibt, die durch die Straftat direkt geschädigt wurden, wie zum Beispiel Drogendelikte. Ob eine Mediation infrage kommt, entscheidet sich nicht nach einem Deliktekatalog, sondern nach dem individuellen Einzelfall, einer allfälligen Massnahmebedürftigkeit von Jugendlichen und der Schwere der Tat. Bei schwereren Fällen sind es nur diejenigen, bei denen es rechtlich möglich ist, ein Strafverfahren einzustellen – denn gelingt eine Mediation, führt das zur Einstellung des Strafverfahrens.
Was sind die Besonderheiten in einer Mediation mit Jugendlichen, die straffällig geworden sind? Im Unterschied zu einer «normalen» Mediation haben wir es ja mit Personen zu tun, die als Täter:innen oder als Opfer im Raum sitzen. Gibt es in diesem Setting besondere Herausforderungen?
Vom Verfahren her gesehen ist der wichtigste Unterschied, dass es eine prämediative Phase gibt. Das sind die umfangreichen Vorabklärungen und vor allem die Einzelgespräche, die wir führen, damit wir gemeinsam mit den Beteiligten entscheiden können, ob eine Mediation der für alle richtige Weg ist und in welchem Setting sie konkret durchgeführt werden soll. Das Verfahren findet zwar im Zwangskontext statt, bleibt aber ein freiwilliges – es steht den Beteiligten frei, mitzumachen oder nicht. In diesen Vorgesprächen schauen wir, ob das Mediationsverfahren insbesondere für die geschädigte Partei infrage kommt. Dabei wollen wir herausfinden, was es für die Betroffenen überhaupt zu klären gibt? Was ist wichtig? Um was geht es wirklich? Zentral ist dabei immer auch der Opferschutz.
Die Jugendlichen sind zwischen 10 und 18 Jahre alt. Welche Rolle spielen da die Eltern?
Beim Erstgespräch erklären wir unsere Arbeit und das Mediationsverfahren, damit die Beteiligten informiert entscheiden können, ob sie sich darauf einlassen möchten. Da sind oft die Eltern oder ein Elternteil mit dabei; nur wenn die Jugendlichen älter sind, kommen sie teilweise allein. Wir unterstützen die Jugendlichen darin, eigenverantwortlich ihren Anteil zur Lösung beizusteuern. Allerdings sind Eltern insofern oft «ein Problem», als dass sie nicht selten andere Interessen als die Jugendlichen haben und ihren Kindern wenig zutrauen. Wir versuchen immer, die Eltern mit an Bord zu nehmen, und unterstützen die Jugendlichen darin, ihren Eltern erklären zu können, warum für sie eine alternative Lösung und Klärung wichtig ist. Die Mediationsgespräche machen wir, wenn immer möglich, nur mit den direkt beteiligten Jugendlichen.
Wir führen Einzelgespräche und fragen nach, wer zur Klärung involviert werden soll, wer die Hauptpersonen sind. Oft sind die Rollen nicht gleich verteilt wie im Strafverfahren. Sie sagen dann oft: Ja, ich möchte das gerne klären, aber für mich ist es vielleicht wichtig, diesen Punkt nur mit denjenigen zu klären, die ich kenne. Oder, dies sind die Haupttäter und die anderen interessieren nicht. Oder sie sagen, ich möchte die ganze Gruppe in diesen Mediationsprozess miteinbeziehen.
Was sind aus deiner Erfahrung für die Mediator:innen mögliche Stolpersteine, wenn sie sich auf eine Mediation in dieser Täter-Opfer-Konstellation einlassen? Wie könnt ihr allparteilich bleiben?
Es geht darum, eine professionelle Distanz zu wahren, das ist essenziell. Wir klären die Interessen und Be- dürfnisse aller Beteiligten in ausführlichen Vorgesprächen. In komplexeren Ausgangslagen arbeiten wir zu zweit in Co-Mediation. Der wichtigste Teil unserer Arbeit findet in den Einzelgesprächen statt, und dies ermöglicht es uns, allparteilich zu bleiben. Das Wichtigste scheint mir, den Beteiligten einen sicheren, neutralen Raum zur Verfügung zu stellen, um ihnen die persönliche Klärung von Hintergründen und Folgen der Straftat zu ermöglichen. Das sind wir insbesondere den Opfern im Sinne des Opferschutzes schuldig.
Wir können und dürfen nichts dem Zufall überlassen, sondern müssen alle möglichen Risiken und Probleme, die auftreten könnten, in der Vorbereitung genau durchgehen. Wir müssen auch kleine Zeichen erkennen können, dass z.B. eine Person eine Pause braucht oder einen Abbruch der Mediation wünscht. Manchmal gibt es Jugendliche, die schnell mal sagen: Ja, ja, ich entschuldige mich dann schon, und wenn es dann darauf ankommt, klappt es vielleicht doch nicht so gut. Da liegen aus meiner Sicht mögliche Stolpersteine.
«Wir können und dürfen nichts dem Zufall überlassen.»
Wie geht ihr mit der Vertraulichkeit um?
Eine der wichtigsten Grundregeln ist, alles im Mediationsverfahren bleibt vertraulich. Es gibt kein Protokoll, es gibt keine Aufzeichnung der Gespräche und keine inhaltlichen Rückmeldungen an die zuweisenden Jugendanwaltschaften. Mit den Beteiligten klären wir, wie sie die Vertraulichkeit untereinander regeln wollen. Mit Eltern oder Fachpersonen können sie, wenn sie wollen, Inhalte besprechen, aber es gibt eine klare Abmachung, dass z.B. die Kolleg:innen nur erfahren, dass die Sache jetzt geklärt ist. Die Jugendlichen sind froh um diesen sicheren, neutralen und vertraulichen Raum. Sie schätzen es, dass sie das besprechen können, was für sie wichtig ist, um die Sache gut abschlies- sen zu können – und das ist oft nicht das, was in einem Strafverfahren zur Anzeige gebracht wurde bzw. dort thematisiert wird. Das geht von: Es war genau so, und wir können das klären und die Auseinandersetzung nachhaltig lösen. Bis zu: Es war nicht so, es war vielleicht anders. Oder heute sind wir an einem anderen Ort, weil Jugendliche ein halbes Jahr später nicht mehr dort sind, wo sie damals waren. Oder sie können nach kurzer Zeit schon sagen, dass die Sache geklärt ist, obwohl die Eltern und alle rundherum noch denken, das sei eine riesige Sache. Was im Strafverfahren von Dritten entschieden wird, ist oft gar nicht so wichtig. Wichtig ist zu verstehen, warum etwas passiert ist und dass es nicht wieder passiert. Wichtig ist, dass Verantwortung übernommen wird, eine Entschuldigung ausgesprochen wird und ein persönlicher Abschluss möglich ist.
Als Mediator höre ich jetzt, dass es wichtig ist, zu klären, was die Bedürfnisse und Anliegen hinter den Positionen sind.
Das ist das, was wir in den Vorgesprächen immer thematisieren: Was möchtest du? Was ist für dich wichtig? Und dann kommt vielleicht, ich will genau wissen, wie das war und warum das passiert ist. Warum ich? Oder es kommt: Mir ist egal, was war, aber ich habe immer noch Angst. Ich kann nicht mehr rausgehen. Wenn ich wüsste, dass ich wieder rausgehen könnte, dann ist es für mich okay. Und dann sprechen wir nur über das. Die Bedürfnisse und Anliegen sind der Kern.
Kannst du ein Beispiel eines solchen Falls erzählen?
Zwei Jugendliche führten eine Beziehung, es war die erste grosse Liebe, aber nach einiger Zeit hat sie ihn verlassen. Das hat ihn extrem gekränkt. Daraufhin hat er begonnen, ihr nachzustellen und sie auf dem Nachhauseweg immer wieder abgepasst. Er wurde nicht tätlich, für sie war die Situation aber sehr unangenehm und sie hatte Angst. Er hat vieles verharmlost und auch abgestritten. Nach mehreren Vorgesprächen konnte das Mediationsgespräch dann stattfinden. Er konnte das erste Mal nachvollziehen, was seine Handlungen bei ihr ausgelöst haben, und die Verantwortung dafür übernehmen. Schlussendlich konnte er ihr versichern, dass er sie in Zukunft in Ruhe lassen würde. Diese Lösung hat sie sich gewünscht, sie wollte keine Entschuldigung, sondern sich wieder frei bewegen können und in ihren Augen hätte eine Strafe an der Situation nicht viel geändert.
«Was möchtest du? Was ist für dich wichtig?»
Wie könnte eine Vereinbarung in Bezug auf ein solches Beispiel aussehen?
In einer solchen Vereinbarung geht es oft darum, wie gehen wir in Zukunft miteinander um, welche Abmachungen treffen wir, es kann aber auch um eine Wiedergutmachung oder eine Entschuldigung gehen. Es kann eine Zusicherung des Beschuldigten sein: Ich lass dich in Zukunft in Ruhe. Oder, ich sag meiner Gruppe: Die lassen wir jetzt in Ruhe. Das funktioniert auch, weil es nicht eine Vorgabe von Dritten ist, sondern eine getroffene Abmachung. So schaffen wir ein Sicherheitsempfinden, und das ist oft das Ziel der Mediation für einen Geschädigten. Vielleicht ist aber auch die Verantwortungsübernahme das Ziel. Dann arbeiten wir auf dieses Ziel hin. Vielleicht steht auch die grosse Frage nach dem Warum im Zentrum, weil es das ist, was den Geschädigten umtreibt.
«Eine Strafe hätte in ihren Augen an der Situation nicht viel geändert.»
Werden diese Vereinbarungen dann auch eingehalten? Gibt es eurerseits eine Überprüfung der Nachhaltigkeit? Oder habt ihr Erfahrungen, dass eine Mediation auch im Sinne von Prävention funktionieren kann oder dass die Täterschaft weniger rückfällig wird?
Ein grosser Vorteil der Mediation ist, dass es zu nachhaltigen Klärungen und Regelungen kommt und sich dadurch der Konflikt nicht weiter ausdehnt oder es zu Folgekonflikten kommt. Punkto präventiver Wirkung und geringerer Rückfallgefahr gibt es Forschung, die zeigt, dass Mediation diesbezüglich gute Resultate erzielt.
In meiner Arbeit als Mediatorin erlebe ich oft, wie lehrreich es für jugendliche Tatverantwortliche sein kann, wenn sie sich mit den Tatfolgen und der emotionalen Tatklärung auseinandersetzen und die Verantwortung für ihr Tun gegenüber den Direktbetroffenen übernehmen. Oft bereuen sie ihre Tat und sind froh, wenn sie dies gegenüber den Opfern kundtun können. Für die Tatbetroffenen bietet die Mediation die Möglichkeit einer direkten Klärung der offenen Fragen und die Berücksichtigung ihrer Interessen und Bedürfnis- se. Gerade Opfer erkennen darin eine gute Möglichkeit, für sich selbst einen Abschluss (inkl. Regelung der Zivilforderungen) zu finden und bei Bedarf verbindliche Abmachungen für die Zukunft zu vereinbaren.
Wer mediativ arbeitet, kennt diesen magischen Moment, in dem Beteiligte erleben, wie es sich anfühlt, einen Konflikt selbstbestimmt gelöst zu haben. Das ist auch für uns Mediator:innen immer wieder schön zu erleben, wie gut eine Mediation funktioniert hat. Für die Opfer ist das meist ein guter Weg, weil sie dann damit abschliessen können und ihre Fragen be- antwortet sind, von der einzigen Person, die diese Fragen beantworten kann.
Wo siehst du Entwicklungspotenzial für die Mediation in Strafsachen?
Ich sehe für die Mediation – als eines der zentralen Konzepte der «Restorative Justice» – ein grosses Potenzial in der Schweiz, sowohl im Jugend- als auch im Erwachsenenstrafrecht. Es könnten noch viel mehr Strafverfahren in ein Mediationsverfahren überführt werden, weil deutlich nachhaltigere Lösungen daraus resultieren. Hinter fast jedem Strafverfahren steht irgendeine Konfliktsituation. Ich glaube, auch für die Opfer könnten wir mit Mediation viel mehr erreichen, gerade weil sie andere Wege beschreiten und an Sicherheit gewinnen können. Wenn wir sehen, wie die Zahl der Strafverfahren ständig zunimmt, wie Strafverfolgung und Strafjustiz ständig ausgebaut werden, dann könnte man sich ja auch nur schon aus Zeit-, Kosten- und Nachhaltigkeitsgründen fragen, warum wir nicht mehr mit der Methode der Mediation arbeiten.
Herzlichen Dank für das Gespräch.
Monika Holzer ist Psychologin, Juristin und Mediatorin. Sie leitet seit 2020 die «Stelle für Mediation im Jugendstrafverfahren» des Kantons Zürich. Sie wird an der Tagung «Kraftwerk Familie» vom 8./9. Mai 2026 ein Inputreferat halten.