Was zeichnet den hypnosystemischen Ansatz aus? Warum macht es Sinn, ihn als Schulen übergreifenden Erklärungsansatz in der Psychotherapie zu etablieren?
Für die Hypnotherapie ist die Systemtheorie als erkenntnistheoretischer Ansatz äusserst sinnvoll. Ausserhalb von uns gibt es Reize; wie wir sie verarbeiten, hängt von unserer inneren Struktur ab. Das ist ein absolut systemischer Grundgedanke. Die Hypnotherapie und die Systemtheorie gehen sehr gut ineinander über. Zum Beispiel werden das Prinzip des «Pacing und Leading» oder des «Ankoppelns» in die systemische Therapie integriert. Es ist gut, wenn ich in der Lage bin, mich auf das Weltbild meines Gegenüberseinzustellen. Wenn ich seine Art und Weise zu denken oder seine Vorannahmen berücksichtige, wenn ich also seinen Erwartungen ein Stück weit entgegenkomme, dann wird eine Psychotherapie effektiver. Das kann man sowohl im Systemischen wie auch in der Hypnotherapie gut nutzen.
Was ändert sich bezüglich der Grundhaltung oder der Position des Therapierenden?
Die Grundhaltung ist entscheidend. Wenn ich einem Klienten ein Angebot mache, er aber damit wenig anfangen kann, so ist das eine Rückmeldung an mich. Ich begreife, das Angebot passt nicht. Der Inhalt oder der Zeitpunkt oder die Form, wie ich das Angebot formuliert habe, stimmen nicht. Früher haben wir oft gehört: Der Klient sei für dieses Verfahren nicht geeignet. Heute gehen wir eher davon aus, dass das, was der Therapeut anbietet, für den Klienten nicht geeignet ist. Das gibt mir die Möglichkeit, zu überlegen, was der Klient annehmen und welche alternativen Angebote ich entwickeln kann. Das ist eine grundsätzlich andere Haltung. Auch in Bezug auf die Hypnose gibt es deutliche Unterschiede. Wenn ein Klient mich fragt: «Meinen Sie, dass Sie es schaffen, mich zu hypnotisieren?», dann lautet die richtige Antwort: «Nein, ich schaffe das nicht. Ich mache Ihnen dafür ein Angebot, wie Sie es selber schaffen können, eine Trance zu aktivieren.» Ich mache ein Angebot, das der Klient nutzt, um für sich eine Veränderung zu erreichen. Das ist ein grundlegend anderer Ansatz und auch eine rundlegend andere therapeutische Haltung, die wir sowohl in der systemischen Therapie finden wie auch in der Hypnotherapie. Wir betonen damit viel mehr die Selbstorganisationsfähigkeiten des Klienten und die Fähigkeit, sich selber weiterzuentwickeln. Der Therapeut ist nicht derjenige, der eine Veränderung bewirkt.
Dann steht also nicht mehr das Symptom im Fokus, sondern die Beziehungsgestaltung respektive die Beziehung zwischen dem Klienten und dem Symptom?
Genau. Die Beziehungsgestaltung ist sehr wichtig. Ich muss als Therapeut die Beziehung so gestalten, dass der Klient meine Angebote annehmen kann. Ich muss aber auch die Beziehung vom Klienten zum Symptom betrachten: Wieso hat sich dieses Symptom entwickelt? Welche regulative Funktion übernimmt es? Welche alternativen Möglichkeiten kann der Klient entwickeln, damit er das Symptom nicht mehr als Regulator benötigt?
Du hast ein spannendes Buch auf den Markt gebracht, «Hypnosystemische Therapie bei Depression und Burnout». Was ist speziell an der hypnosystemischen Sichtweise zum Beispiel von Depressionen?
Es ist wichtig, dass das ganze System, in dem sich der Klient bewegt, betrachtet wird. Sind Beziehungen vor-handen, die diese depressive Symptomatik unterstützen oder aufrechterhalten oder die sie sogar ein Stück weit gefördert haben? Manchmal muss das Umfeld des Klienten, wie Partner oder Familie, miteinbezogen werden, damit er überhaupt aus der Depression her-ausfinden «darf». Denn wir beobachten immer wieder Folgendes: Jemand war lange Zeit depressiv und hat damit auch die Familie sehr belastet. Deckt man ihn, sobald es ihm wieder besser geht, mit Vorwürfen ein, wie «Das hast du wiedergutzumachen!» oder «Du hast über die ganzen Jahre unser Leben versaut!», wird er erkennen, dass ihn eine Depression vor solchen Anschuldigungen schützt. Das ist natürlich eine hohe Motivation, sich wieder in die Depression hineinzubewegen. Wir können die Depression also nicht als etwas betrachten, das sich lediglich auf den Klienten bezieht.
Ein weiterer Punkt ist die Frage nach dem Sinn der Symptomatik. Er ist bei einer Depression auf den ersten Blick schwer erkennbar. Was macht es für einen Sinn, rumzusitzen, nichts auf die Reihe zu kriegen und sich dabei auch noch schlecht zu fühlen?
In deinem Buch zeigst du jedoch auf, dass eine depressive Symptomatik durchaus Sinn machen kann.
Ich versuche aufzuzeigen, dass die Depression biologisch gesehen durchaus ein sinnvolles Verhalten ist. Habe ich das Gefühl, dass alles, was ich tue, sowieso nichts bringt, macht es durchaus Sinn, gar nichts mehr zu tun, um keine Ressourcen mehr zu vergeuden. Die «Natur» zwingt im Prinzip den Organismus zur Untätigkeit. Das macht die Depression aus. Wenn ich das verstehe, dann kann ich eine andere Haltung einnehmen. Es geht nicht darum, dass der Klient sofort aktiviert werden muss, wie wir das oft im psychotherapeutischen Bereich vorfinden. Vielmehr soll er Kompetenzerfahrungen machen, die ihm zeigen, dass sein Handeln und sein Tun durchaus etwas bringen und dass sie auch Auswirkungen darauf haben, wie er sich fühlt.
Man könnte sagen: «lieber ein Winterschlaf als emotionales Verhungern»?
Richtig, das ist eine gute Beschreibung. Und das ist ein ganz entscheidender Punkt. Die Angst vor Veränderungen beruht oft auf frühen Erfahrungen von Hilflosigkeit. Zum Beispiel, wenn die Mutter den Kindern von einem Moment auf den anderen einen neuen Vater präsentiert, sie die Wohnung wechseln und die Kinder dabei auch noch den Kontakt zu den geliebten Grosseltern verlieren. Dass man mit einer solchen Grunderfahrung Angst hat vor Veränderung, ist nachvollziehbar. Wir korrigieren dann oft diese alten Erfahrungen, gehen in der Trance zurück, bestätigen dem «Kind», dass es recht hat, dass nicht in Ordnung ist, was passiert, und ermutigen es, den Kontakt zu den Grosseltern selbst herzustellen. Der Klient sieht, wie sich die Grosseltern freuen, und macht so die Erfahrung, dass er durchaus handeln kann. Und dann sind Veränderungen auch nicht mehr so ein Problem. In meinem Buch habe ich verschiedene Ansätze dargestellt, wie Klienten diese Kompetenzerfahrung real machen, sie körperlich und emotional nachvollziehen können. Im Gegensatz zu einem kognitiven Konstrukt erleben sie in solchen Prozessen einen Energieschub. Sie merken, dass sie sich dabei auch körperlich ganz anders fühlen. Die Erfahrungen setzen Ressourcen frei, die der Klient spüren und nutzen kann. Und das überzeugt!
Die Symptome von Burnout und Depression sind sich teilweise «ähnlich», im Gegensatz zum Prozess. Worin liegt da der Unterschied?
Es stellt sich schon lange die Frage, ob Burnout eine sinnvolle, eigene Kategorie ist, die man von Depression unterscheiden sollte. Ich plädiere für eine Unterscheidung. Zum einen unterscheidet sich die Grundeinstellung, das ganze Weltbild, eines Burn-out-Gefährdeten stark von der eines Depressiven. Der Burnout-Klient erlebt sich nicht als inkompetent, sondern – oft in den Phasen vor dem Burnout – als jemand, der alles schaffen könnte, wenn er es nur richtig angeht. Der Burnout-Klient überschätzt oft auch seine Möglichkeiten, sich an unpassende Situationen anzupassen. Im Gegensatz dazu erfährt sich der depressive Klient oft als abhängig von den Umweltbedingungen.
Der Hintergrund in Bezug auf die Kindheitserlebnisse ist ebenfalls sehr unterschiedlich. Der depressive Klient macht oft Hilflosigkeitserfahrungen. Ihm wird beigebracht, die eigenen Bedürfnisse zurückzustellen und sich für andere zu engagieren oder seine eigenen Bedürfnisse erst gar nicht wahrzunehmen. Dafür wird er weder bestätigt, noch zieht er sonst irgendwelche Vorteile daraus.
Im Gegensatz dazu stellt der Burnout-Klient seine Bedürfnisse und Intentionen so zurück, dass er dafür gelobt und bestätigt wird. Gleichzeitig überfordert er sich, indem er versucht, mehr zu schaffen, als er eigentlich schaffen kann. Wenn später die Sinnhaftigkeit dieses Verhaltens verloren geht, zum Beispiel indem gewisse Ziele nicht mehr erreichbar sind, eine Beförderung ausbleibt oder er plötzlich einen grossen finanziellen Verlust erleidet, sind das oft Auslösebedingungen für eine Art depressiver Reaktion.
Diese Unterscheidung ist therapeutisch sinnvoll, weil es grundsätzlich in eine ganz andere Richtung geht. Auch wenn sowohl beim Burnout als auch bei der Depression das «Schlussbouquet» eine Art Minusgeschäft war.
Ja, genau. Bei beiden ist der Auslöser oft ein «Minusgeschäft» oder die starke Erfahrung von Hilflosigkeit. In meinem Buch habe ich einen solchen Fall beschrieben: Jemand hat über 12 Jahre lang 70 Stunden pro Woche gearbeitet. Er zeigt keine Anzeichen von Burn-out-Symptomen. Dann brennt die ganze Firma ab und das Burnout ist plötzlich da. Das heisst, er reagiert dann depressiv.
Möchtest du noch eine Anmerkung oder eine Ergänzung anbringen?
Gerne. Die Rückmeldungen der Praktiker auf das Buch waren überraschend gut. Es lese sich sehr gut und enthalte viele schöne praktische Beispiele, die man gut umsetzen und anwenden könne. Die einzige Kritik kam von einem Universitätsprofessor, der anmerkte, dass zu wenige Literaturangaben und viel zu wenig Verweise vorkämen. Ich habe ihm freundlich zurückgeschrieben, dass ich einfach die Zeit dafür nicht gehabt habe, um alles, was ich gelesen hatte, nochmals zu sichten und mit einzubinden. Das Buch hat keinen wissenschaftlichen Anspruch, es soll für die Praxis sein. Denn ich bin der Meinung, dass es bereits viele Bücher gibt – auch aus der wissenschaftlichen Ecke –, wo man sich nach dem Lesen fragt: «Und nun? Was mache ich jetzt?» Ich wollte in meinem Buch die Praxis beschreiben.
Und dank der positiven Feedbacks bist du nicht im Burnout gelandet?
Ja, da waren ganz lustige Sachen dabei (lacht). Ein Oberarzt aus einer Klinik im Schwarzwald meinte, dass das Buch viele andere Bücher erspare. Die haben das richtig durchgearbeitet und er hat gesagt, er gebe das Buch auch vielen Patienten mit. Sie profitieren nun davon, obwohl ich es eigentlich gar nicht für sie geschrieben habe. Das hat mich etwas überrascht, aber wenn das funktioniert, können wir vielleicht auch einmal etwas für Patienten machen.
Das Gespräch mit Ortwin Meiss ist publiziert im IEF-Magazin Nr. 4, Frühling 2017.