Hugo Grünwald

«Wir wollen, dass die Themen in den Familien besprechbar werden.»

Multifamilientherapie (MFT) oder auch Multifamilien- arbeit (MFA) ist ein systemischer Ansatz, in dem mit mehreren Familien simultan gearbeitet wird. Was zeichnet diese Methode aus? Karin Bracht und Petra Kiehl erläutern im Gespräch mit Jens Frost die Kraft und das Potenzial dieser Arbeit in Gruppen.

 

Was versteckt sich hinter dem Kürzel MFT?

Petra: MFT steht für Multifamilientherapie und ist Arbeit mit mehreren Familien gleichzeitig. Oder anders gesagt, MFT ist systemische Familientherapie in Gruppen; es sind mindestens vier, im besten Fall acht Familien. Je mehr Familien teilnehmen, desto besser wirkt das Konzept, dass Eltern mal in der Rolle der Hilfesuchenden und mal in der Expert:innen-Rolle sind. Wir wissen, dass Menschen in belastenden Lebenssituationen oft eine eingeengte Sichtweise auf die eigenen Anteile an der Situation haben. Gleichzeitig verfügen sie aber über eine hohe Sensitivität für ähnliche Probleme und Lebenssituationen von anderen.

Karin: Dahinter steckt eine systemische Grundhaltung. Wir Therapeut:innen sind nicht die Expert:innen, sondern wir gestalten den Kontext der Gruppe so, dass die Familien die Ressourcen und Fähigkeiten bei den anderen Familien sehen, aber auch deren Schwierigkeiten. Das sehen sie dort besser als bei sich selbst. Die Familien kommen miteinander in einen Beratungsprozess und unsere Aufgabe als Therapeut:innen ist es, eine Atmosphäre zu schaffen, die es ermöglicht, dass sich die Eltern als wirksam erleben und für andere hilfreich sein können. Dann können sie zum Beispiel sagen, dass sie so eine Situation mit den eigenen Kindern ebenfalls gut kennen und dass sie auf eine bestimmte Art eine gute Lösung gefunden haben. Wenn die Eltern zu einer Gruppe geworden sind, dann ist das Feedback untereinander sehr deutlich, viel deutlicher, als wenn es von uns kommen würde.

Für welche Familien ist MFT geeignet?

Petra: MFT ist für fast alle Familien geeignet, wenn eine Familie in die Gruppe will, wenn sie an sich arbeiten will, wenn sie Erziehungsschwierigkeiten hat, wie auch immer und warum auch immer. Voraussetzung ist, dass die Familie gruppenfähig ist und insbesondere die Eltern nicht zu abgeschottet leben.

«Das Feedback ist viel deutlicher, als wenn es von uns kommen würde.»

Karin: Wenn wir beginnen, mit einer Gruppe an Fami- lien zu arbeiten, ist es gut, irgendeine Klammer zu haben, ein Thema, das alle miteinander verbindet. Ich erinnere mich an eine Gruppe, da hatten alle Familien ein Kind, das an Diabetes erkrankt war. Oder ich mache eine ganz weite Klammer und sage: «Ihr alle seid Verfolgte des Jugendamtes.» Eine Kollegin hatte maleine Gruppe von Familien, in denen ein Kind am «plötzlichen Kindstod» gestorben ist. Alle haben gesagt, so wie es uns geht, das kann nur jemand verstehen, der das selbst auch erlebt hat. Wir arbeiten aber auch oft mit Gruppen, da haben wir nicht so eine offensichtliche Verbindung.

Was ist der Unterschied zwischen einer MFT-Gruppe und einer Selbsthilfegruppe?

Karin: Bei den MFT-Gruppen haben wir die Eltern und die Kinder zusammen in einem Raum, das ist bei Selbsthilfegruppen nicht der Fall. Wir wollen, dass die Themen in den Familien besprechbar werden. Deshalb richten wir uns darauf aus, dass insbesondere das kleinste Kind eine Stimme bekommt.

«Die Kinder sind eine enorm wichtige Ressource.»

Petra: Die Kleinsten kommen meist zuerst dran, wenn eine Frage gestellt wird. Die Kinder sind eine enorm wichtige Ressource. Wir staunen oft, was für bemerkenswerte Rückmeldungen Kinder zu den Prozessen geben. Wir hatten zum Beispiel in einer ambulanten Gruppe zweijährige Kinder, die in der Ecke mit Teddybären spielten. Als in der Gruppe etwas geschah und ein grösseres Kind weinte, da brachte ihm das Zweijährige einfach den Teddy. Da musst du nicht mehr viel sagen, die Eltern erleben, wie das wirken kann. Dann können wir über das kleine Kind mentalisieren und über den Teddy, den das grössere Kind vielleicht braucht. Unser Job ist es, Kontexte zu gestalten, in denen es den Familien möglich ist, solche Erfahrungen machen zu können. Sie erfahren auch, dass wir sie dabei nicht allein lassen. Wir reissen nicht einfach Themen auf und schicken sie dann nach Hause. Wir versuchen in der Gruppe einen «Schonraum» zu gestalten, in dem die Familien neue Prozesse üben und versuchen können, das Ganze nach Hause zu transferieren.

In welchen Kontexten arbeitet ihr mit MFT?

Petra: Wir setzen MFT in den unterschiedlichsten Kontexten im Gesundheits- und Bildungswesen ein, in Schule oder Kindergarten, in Familienzentren oder in ambulanten, stationären und teilstationären klinischen Angeboten. Dann gibt es auch verschiedene MFT-Angebote, die mit eigenen Bezeichnungen unterwegs sind, wie «Kinder aus der Klemme», «Familienklassen» oder «Kids time», ein Angebot für Fami- lien mit psychisch kranken Eltern. Das Programm «Kinder aus der Klemme» halte ich für sehr MFT-ähnlich, obwohl wir da nicht immer mit den Kindern und den Eltern gleichzeitig in einem Raum arbeiten.

Wie kommen die Familien in eine MFT-Gruppe? Wie ist das mit der Freiwilligkeit respektive den Zwangskontexten?

Karin: Ich würde doch im Leben nie auf den Gedanken kommen, mich mit meinem Partner in eine Gruppenpaartherapie zu begeben – schon gar nicht freiwillig. Wenn aber mein Partner sagen würde, entweder du machst das oder ich trenne mich, dann wäre wohl eine andere Notwendigkeit sichtbar. Genauso geht es auch mit den Familien. Es braucht viel Zeit, bis sich Familien mit ihrer Thematik in so einer Gruppe zeigen und das Gefühl entwickeln, hier ist ein sicherer Ort. Es geht meist über die Kinder, die gerne kommen. Die Eltern werden häufig von Ämtern oder vom Familiengericht geschickt mit einer scheinbaren Freiwilligkeit im Sinne von: «Naja, sie sollten das schon mal machen. Es ist natürlich ein freiwilliges Angebot, aber wenn sie das jetzt nicht machen, müssen wir über andere Möglichkeiten nachdenken.»

Petra: Ich habe gute Erfahrungen damit gemacht, dass wir neue Familien mal zu einem unverbindlichen Besuch in der MFT-Gruppe eingeladen haben und sie mitlaufen liessen. Diese Familien sind alle wiedergekommen und ab diesem Moment war es ein Selbstläufer. Wir kommunizieren auch den zuweisenden Ämtern, dass die Familien mal vorbeischauen sollen, damit sie sehen, was MFT bedeutet. Wenn die Familien mal dabei sind, dann wollen sie gar nicht mehr gehen. Die Familien erleben solidarische Unterstützung, Entstigmatisierung, vielfältige gemeinsame Erlebnis- se und die Möglichkeit, durch Austausch mit anderen Familien neue Wege auszuprobieren. Diese Erfahrung ebnet den Weg zu Empowermentprozessen.

Heute bietet ihr selbst eine MFT-Weiterbildung an. Wie ist diese strukturiert?

Petra: Wir haben die Weiterbildung in den letzten Jahren immer wieder weiterentwickelt, da sich auch die Settings, die Familiensysteme und ihre Lebensthe- men verändert haben. In der Weiterbildung behandeln wir in fünf Blöcken alle Themen, wie sie in MFT-Gruppen vorkommen: Der Beginn einer Gruppe, dann kommt es zu Konflikten und es entstehen Bindungen, es geht um Ressourcen und schliesslich entwickelt es sich zum Abschied hin. Die Teilnehmenden durchleben den ganzen Prozess. Was braucht es, um die Menschen am Anfang gut anwärmen zu können, dass sie gerne wiederkommen? Wie kann ich gut Ressourcen aus Familien herauskitzeln? Wie finden wir für alle Themen die richtigen Worte? Wie können wir, egal welches vielleicht schwierige Thema uns begegnet, dieses in den Familien besprechbar machen?

Wem würdet ihr die MFT-Weiterbildung empfehlen?

Karin: Ich würde die Weiterbildung dann empfehlen, wenn jemand die Möglichkeit hat, möglichst zeitnah mit Familiensystemen zu arbeiten. Sie brauchen noch kein Konzept dafür, aber sie sollten eine Möglichkeit oder eine Idee haben, dass MFT ein Teil ihrer Arbeit werden könnte. Zudem ist es gut, wenn die Teilnehmenden bereits ein gewisses Verständnis für die Grundlagen und die Praxis von systemischem Arbei- ten haben, unabhängig von ihrem beruflichen Kontext. Wir haben meist sehr multidisziplinäre Ausbildungsgruppen mit Hintergründen in der Schule, in der Sozialpädagogik, der Psychiatrie und der ambulanten, teilstationären oder stationären psychosozialen Versorgung von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen.

«Wie finden wir für alle Themen die richtigen Worte?»

Petra: Für mich ist die Voraussetzung, dass jemand Lust hat, mit Gruppen zu arbeiten, und bereit ist, sich auf das co-therapeutische Arbeiten einzulassen, da wir ja MFT-Gruppen immer zu zweit begleiten. Wenn ein Team die Weiterbildung zusammen machen kann, wäre das ein Glücksfall. In Institutionen haben wir zudem die Erfahrung gemacht, dass es sinnvoll ist, wenn mehrere Personen die MFT-Weiterbildung gemacht haben, damit bei Ausfällen immer jemand einspringen kann.

Ihr seid mit MFT in Deutschland und der Schweiz unterwegs. Wohin geht die Entwicklung?

Karin: MFT hat sich in Deutschland in vielen Bereichen des Gesundheits- und Bildungssystems gut etabliert. Auch in der Schweiz gibt es einige Angebote, neuerdings auch in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Trotzdem ist MFT hier noch nicht breit bekannt.
«MFT wird aus ökonomischen Gründen gute Chancen haben, sich weiter zu verbreiten.»

Petra: Ja, MFT entwickelt sich sehr dynamisch, es lohnt sich auf jeden Fall dranzubleiben. Die Coronapandemie hat uns gezeigt, wie schnell gerade Gruppenangebote zurückgestellt werden. Wir haben in dieser Zeit viel mit Video gearbeitet und für die Familien war es enorm wichtig, zu sehen, dass da draussen noch etwas passiert. Bei uns haben alle Gruppen diese Zeit überstanden. Zudem bin ich überzeugt, dass MFT auch aus finanziellen respektive ökonomischen Gründen gute Chancen hat, sich weiter zu verbreiten. Es fehlt überall an Ressourcen und immer mehr auch an Personal, das wir einsetzen können. Wenn wir mit acht Familien und zwei Therapeut:innen in einer Gruppe arbeiten können, so ist das ein Vielfaches effizienter, als wenn wir mit den Familien einzeln arbeiten. Mit MFT haben wir ein Angebot, das genau in diese Lücke geht.

Herzlichen Dank für das Gespräch.

 

Multifamilientherapie (MFT) ist simultane systemische Arbeit mit mehreren Familien, die von vergleichbaren sozialen und emotionalen Problemen betroffen sind. Dieser Ansatz wurde in Grossbritannien durch Prof. Dr. Eia Asen entwickelt und in Deutschland durch Prof. Michael Scholz unter dem Begriff «Multifamilientherapie» (MFT) etabliert. Dabei werden systemische Therapiegrundlagen handlungs- und zielorientiert im Gruppenkontext angewendet. Es werden unmittelbare (Verhaltens-) Änderungen wie auch langfristige Entwicklungen angestossen und eingeübt.

Marianne Egloff Systemisches Elterncoaching IEF Zürich

Karin Bracht
Systemische Therapeutin und Supervisorin, Lehrende für Therapie, Beratung und Multifamilientherapie, lebt und arbeitet in Berlin.

 

Marianne Egloff Systemisches Elterncoaching IEF Zürich

Petra Kiehl
Diplom-Sozial- pädagogin, Genderpädagogin, Marte-Meo-Therapeutin, Lehrende für Multifamilientherapie, Leiterin der Multifamilientherapie im Albert-Schweitzer-Kinderdorf in Hanau.

 

Das Gespräch führte Jens Frost. Er ist eidg. anerkannter Psychotherapeut, Fachpsychologe für Kinder- und Jugendpsychologie FSP, MFT-Therapeut und Gründungspräsident des Schweizerischen Dachverbandes Multifamilienarbeit/Multifamilientherapie.