Raymund Soler Mediation

«Trotz des Konflikts haben wir etwas Gemeinsames – nämlich den Konflikt.»

Was ist Mediation genau? Wieso funktioniert sie so gut? Warum setzt sie sich im innerbetrieblichen Kontext immer mehr durch? Raymund Solèr, am IEF verantwortlich für die Angebote im Bereich Mediation und Konfliktkultur, skizziert im Gespräch mit Martin Engel das Wesen und die Wirkung dieser konfliktklärenden Methode.

Raymund Solèr, du bist ein erfahrener Mediator und leitest seit vielen Jahren die Mediationsausbildung am IEF. Wie erklärst du, was Mediation ist?

Mediation ist eine bestimmte Form der Konfliktklärung und
-bewältigung. Sie zeichnet sich durch eine strukturierte Vorgehensweise aus, innerhalb der die direkt am Konflikt Beteiligten – die Medianden und Mediandinnen – versuchen, mit Unterstützung einer neutralen und allparteilichen Drittperson, des Mediators oder der Mediatorin, ihren Konflikt selbstständig und eigenverantwortlich anzugehen und zu klären.
Der Mediator oder die Mediatorin ist – aus einer allparteilichen und neutralen Haltung heraus – für die Gestaltung des Prozesses und den Ablauf verantwortlich. Das ist eine grundlegend systemische Haltung: Ich bin für den Prozess verantwortlich und nicht für den Inhalt. Die Konfliktparteien sind die Experten und Expertinnen des Konflikts. Sie haben meist eine lange gemeinsame Konfliktgeschichte und kennen sich da folglich auch sehr gut aus. Nur haben sie unterschied- liche Wahrnehmungen bezüglich des Konflikts und diese führen zu unterschiedlichen Wirklichkeiten, denen ich als Mediator begegne. Diese Realitäten versuche ich nicht zu verändern, sondern besser zu ver- stehen. Im Idealfall gelingt dies zu einem späteren Zeitpunkt auch den Konfliktbeteiligten.

Mediation ist eine Art der Konfliktklärung, die sich in den westeuropäischen Gesellschaften etabliert hat. Wie würdest du die Wirkungsmechanismen beschreiben? Was macht sie so wirkungsvoll?

Wenn Personen in einer akuten Konfliktsituation sind, dann sind sie meistens auf den Konfliktpartner fixiert, der dann oft für «das Böse schlechthin» steht. Eine Wirkung der Mediation ist, dass der Mediator oder die Mediatorin die Personen dahin begleitet, dass sie realisieren, nein, der andere ist nicht das Problem, sondern wir haben durchaus etwas Gemeinsames, nämlich unser gemeinsames Problem. Hinter unseren unterschiedlichen Positionen stehen verschiedene durchaus legitime Interessen und Bedürfnisse, vielleicht auch Ängste und Befürchtungen.

«Was sind die Interessen und Bedürfnisse, die hinter den Positionen stecken?»

Wenn dieser Perspektivenwechsel stattgefunden hat, dann hat sich ein Törchen geöffnet, das häufig eine gegenseitige Wertschätzung oder zumindest ein gegenseitiges Verständnis der Interessen und Bedürfnisse möglich macht. Erst auf dieser Basis wird eine

etwas entspanntere Vorgehensweise zur Klärung des Konflikts überhaupt möglich. Der entscheidende Moment ist also, dass die Konfliktparteien erkennen: Trotz des Konflikts haben wir etwas Gemeinsames – nämlich den Konflikt. Oder andersherum: Genau wegen des Konfliktes haben wir auch etwas Gemeinsames.

Mediation ist ein klar strukturierter Prozess. Wie sieht ganz vereinfacht der Ablauf einer Mediation aus?

Der Verlauf einer Mediation ist in verschiedene, klar strukturierte Phasen aufgeteilt. Die erste Phase der Mediation ist die Einleitungsphase. Da geht es vor allem um die Kontaktherstellung, die Auftragsklärung und den Vertrauensaufbau. Und in einem zweiten Schritt kommen wir dann zur Themensammlung. Das heisst, die Mediatorin schaut mit den Parteien, welche Punkte sie in diesem Setting miteinander klären möchten. Die dritte Phase ist dann die eigentliche Kernpha- se der Mediation, wir nennen sie «von den Positionen zu den Interessen und Bedürfnissen». Positionen sind schlecht verhandelbar, deshalb geht es darum, herauszuarbeiten, was die Interessen und Bedürfnisse sind, die hinter diesen Positionen stecken. Das ist die hohe Kunst dieser Phase, und ich würde sagen, der Mediation überhaupt. In der nächsten Phase werden auf der Basis dieser herausgearbeiteten Interessen, Anliegen, Bedürfnisse und Werte von den Parteien verschiedene Lösungsoptionen gesucht. Anschliessend werden diese verhandelt und im besten Fall kommt es schliesslich zu einer Vereinbarung. Diese kann mündlich oder schriftlich geschlossen werden. Häufig, vor allem im innerbetrieblichen Kontext, kommt es zu einer Nachsitzung, bei der wir schauen, ob das auch funktioniert, was vereinbart wurde, oder ob es zusätz- lichen Klärungsbedarf gibt.

Gibt es in der Mediation auch Spielregeln für die Konfliktparteien?

Ja, klar. Häufig gebe ich in der Einleitungsphase gewisse Spielregeln vor. Manchmal erarbeite ich aber auch mit den Parteien gewisse Verhaltens- oder Sprachregelungen. Dann handeln wir diese aus und durchlaufen dafür bereits einen eigenen kurzen Verhandlungsprozess. So können die Konfliktparteien ein erstes Erfolgserlebnis erreichen und erleben, dass sie Vereinbarungen erarbeiten können.

Muss dieser klar strukturierte Ablauf immer so ablaufen? Oder kann das auch flexibler gehandhabt werden?

Das hängt von den unterschiedlichen Stilen der Mediatorinnen und deren Intuition und Improvisationslust ab. Es kann sein, dass ich in einer Situation den Eindruck habe, dass eine bestimmte Intervention hilfreich sein könnte, die nicht dem genauen Ablaufschema entspricht. Ich persönlich arbeite beispielsweise gerne auch mit Metaphern oder mit Interventionen, die mit einer feinen Prise Humor gewürzt sind, stets jedoch die Struktur im Hinterkopf behaltend. Ab und zu müssen wir im Verlaufe der Mediation nochmals einen Schritt zurück machen. Zum Beispiel, wenn wir eigentlich bei den Lösungsoptionen sind, die Parteien statt Lösungen aber noch starre Positionen vorbringen. Dann gehen wir zur Phase der Bedürfnisklärung zurück, denn offensichtlich sind noch nicht alle Interessen und Bedürfnisse auf den Tisch gekommen.

«Ich möchte verstehen, um was es dir geht, was dir wichtig ist.»

Wo kommen Mediationen heute überall zum Einsatz?

Mediationen waren in der Schweiz am Anfang vor allem bei Familienkonflikten gebräuchlich. Hier war auch die Anerkennung am grössten. Im Verlaufe der Zeit hat sich dann gezeigt, dass es noch andere Kon- fliktfelder gibt, in denen diese Methode erfolgreich sein kann. Mittlerweile kommt Mediation in der Gesellschaft und im privaten Bereich breit zum Einsatz. Das kann zum Beispiel bei der Nachfolgeregelung in KMUs oder in Bauernbetrieben sein. Da geht es vor allem um die Mediation zwischen verschiedenen Generationen. Ein grosses Potenzial sehe ich beim Einsatz von Mediationen im betrieblichen Kontext, quer durch alle Branchen hindurch. Heute mediieren wir bei unterschiedlichsten Konflikten in sozialen Einrichtungen und Institutionen im Gesundheitswesen genauso wie in grösseren Unternehmungen, im Schulwesen oder in der öffentlichen Verwaltung. Ein bedeutendes Feld sind auch Konflikte im Bauwesen, in der Nachbarschaft und zunehmend auch bei schwierigen politischen Partizipationsprozessen.

Du hast in letzter Zeit den Fokus auf innerbetriebliche Konflikte gelegt.
Wie sehen hier typische Fälle aus?

Die Konflikte sind sehr breit gefächert, meist liegen sie aber innerhalb von Teams oder Organisationen. Konflikte zwischen einzelnen Mitarbeitenden wirken sich schnell auf das ganze Team aus. Da ist es für mich – systemisch gesehen – hilfreich, schon im Vorfeld im Sinne einer Auftragsklärung in Erfahrung zu bringen, wie weit der Konflikt bereits eskaliert ist. Wie lange dauert er schon an? Wer ist davon betroffen? Wer hat ein Interesse an der Klärung oder an der Aufrechterhaltung des Konflikts? Wo sind Ressourcen vorhanden, die zur Klärung beitragen könnten, und wie kann ich alle wichtigen Personen in die Mediation miteinbeziehen? Häufige Anfragen betreffen Konflikte zwischen zwei Mitarbeitenden oder zwischen einem Vorgesetzten und einem Mitarbeitenden. Es kann aber auch sein, dass es sich um Konflikte zwischen Teams oder Führungskräften handelt.

Kann Mediation denn auch bei einem Konflikt funktionieren, bei dem die beiden Parteien in einem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen?

Ja, das ist sehr wohl möglich. Es muss dann sorgfältig eruiert werden, welche Themen des Konflikts überhaupt in diesem Setting mediiert werden können. Es lohnt sich in solchen Situationen, auch die Frage zu stellen, ob für die Lösung dieses Konflikts nicht eher ein Entscheid seitens des Vorgesetzten angebracht wäre. Zudem erkundige ich mich bei solchen Aufträ- gen explizit immer nach dem Ziel und der Ergebnisoffenheit für eine Mediation.

Macht Mediation Sinn, wenn die Problematik nicht bei den beteiligten Personen angesiedelt ist, sondern in strukturellen Problemen des Arbeitgebers begründet ist?

Mediation kann in einem solchen Fall möglicherweise bewirken, dass die Parteien zum Schluss kommen, dass ein Teil ihres Konflikts strukturell bedingt ist. Wenn die Leitung Bereitschaft zeigt, diesen Input ent- gegenzunehmen, dann kann eine Mediation auch als Team- und Organisationsentwicklung angesehen werden – oder zumindest Auslöser für eine Organisationsentwicklung werden. Deshalb stelle ich bei der Auftragsklärung mit dem Auftraggeber stets die Frage: Falls sich im Verlaufe der Mediation herausstellen sollte, dass der Konflikt auch strukturell bedingt sein könnte, wären Sie daran interessiert, dies zu erfahren? Bis anhin habe ich auf diese Frage noch nie ein Nein bekommen. Tritt dieser Fall ein – was übrigens recht häufig ist –, ist es wichtig, am Ende der Mediation mit den direkt Beteiligten zu erarbeiten, was dann wie und durch wen an die Auftraggeberin zurückgemeldet werden soll. Häufig kann dies durch die direkt Beteiligten selbst erfolgen, und zwar in einem vom Mediator moderierten Feedbackgespräch.

Gerne wird auch von einer mediativen Haltung gesprochen. Was muss ich mir darunter vorstellen?

Es ist zum einen eine systemische Grundhaltung, dass ich nicht für den Inhalt, sondern für den Prozess verantwortlich bin. Zum anderen versuche ich als Mediator den Konfliktbeteiligten nicht wertend, sondern wertschätzend zu begegnen und dabei stets meine Allparteilichkeit zu wahren. Das ist gar nicht so einfach! 

Ich denke manchmal, oje, mit dieser Person hätte ich wohl auch ein Problem. Wenn mir dies widerfährt, dann bin ich jedoch mit meiner Aufmerksamkeit bei mir und mit meinen Emotionen beschäftigt und dementsprechend verliere ich meine Klienten aus dem Fokus. In einer solchen Situation hilft mir eine Haltung der Neugier, um mich wieder ganz den Klienten zuwenden zu können. Ich denke dann beispielsweise: Diese Person wird im Moment wohl ihre guten Gründe haben, dass sie sich genau so verhält, wie sie sich verhält, und genau diese Gründe, die interessieren mich jetzt. So komme ich wieder zu den Interessen und Bedürfnissen meiner Klienten zurück, auf eine wertschätzende Art und Weise.

«Mediative Kompetenzen gehören zum Anforderungs-profil von Fach- und Führungspersonen.»

Wo kann eine mediative Haltung über die Mediation im engen Sinne hinaus auch noch nützlich sein? Eine mediative Haltung kann in sehr vielen Situationen hilfreich sein, im Grunde genommen überall dort, wo unterschiedliche Sichtweisen auf ein bestimmtes Thema im Raum stehen und geklärt werden sollten. So kann ich beispielsweise auch als direkt Beteiligter die Bereitschaft zeigen, dem anderen zuzuhören. Ich meine nicht nur zuzuhören, um dann das Gegenargument besser platzieren zu können, sondern zuzuhören im Sinne eines aktiven Zuhörens: «Ich möchte verstehen, um was es dir geht, was dir wichtig ist.» Diese Haltung hat Auswirkungen auf die ganze Zusammenarbeit und auf das Zusammenleben als solches. Wenn ich – zwar nur noch selten – die Sendung «Arena» am Schweizer Fernsehen anschaue, überlege ich mir, wie die Diskussion verlaufen würde, wenn hier mehr mediativ denkende Menschen vertreten wären. Es gäbe eine ganz andere Diskussionskultur, wenn es nicht darum ginge, möglichst viele Leute von den eigenen Positionen zu überzeugen, sondern Interessen und Bedürfnisse auszutauschen – mit einer Mediatorin als Moderatorin. Das wäre ein spannendes Experiment!

Welchen konkreten Nutzen hat eine Mediationsausbildung? Warum lohnt sich der Aufwand?

Im Grunde genommen ist die Ausbildung auch eine Form der Persönlichkeitsentwicklung. Wir arbeiten häufig mit Rollenspielen. So erleben die Teilnehmenden an sich selbst, wie die Methoden und die Haltung wirken. Sie reflektieren dabei automatisch auch ihr eigenes Konfliktverhalten. Die Ausbildung ist bewusst in verschiedene Module über einen gewissen Zeitraum hinweg ausgelegt. Das gibt Raum, um das Erlernte im Alltag auszutesten und anschliessend in der Supervision zu reflektieren. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass dies den Transfer in die Praxis deutlich erleichtert und den Lernerfolg nachhaltig steigert.

Viele Studierende der Grundausbildung in Mediation führen danach nicht gleich selbstständig Mediationen durch. Vielmehr setzen sie ihre mediativen Erfahrungen in ihrem beruflichen Alltag ein. Ganz generell gehören mediative Kompetenzen vermehrt zum Anforderungsprofil von Fach- und Führungspersonen, da die verschiedenen Methoden und auch die mediative Haltung zur Bewältigung des Berufsalltags sehr hilfreich sein können. So wird dann vielleicht vermehrt auf eine klare Gesprächsstruktur geachtet, zu Beginn eines Gesprächs eine Themensammlung gemacht, die jeweiligen Interessen stärker berücksichtigt oder Auftragsklärung als Daueraufgabe betrachtet.

Die Mediationsausbildung vermittelt insbesondere Führungspersonen zahlreiche Methoden, damit sie in ihrer coachenden Rolle im Umgang mit Konflikten oder Teamprozessen mehr Sicherheit erlangen. Die Ausbildung wird von vielen Studierenden als fruchtbarer Input für die berufliche und persönliche Entwicklung erlebt. Das eigene Konfliktverhalten verändert sich. Und auch Diskussionen am Familientisch könnten aus einer mediativen Haltung heraus entspannter verlaufen...

Herzlichen Dank für das Gespräch.

 

Raymund Solèr hat Rechtswissenschaften an der Universität Zürich studiert und bietet in privater Praxis in Zürich und Chur Mediation, Coaching, Team- und Organisationsentwicklung an. Am IEF ist er als Dozent und als Bereichsleiter «Mediation und Konfliktkultur» tätig.