Sabine Brunner

«Wir sollten mehr mit Kindern reden – statt über sie.»

Was zeichnet die psychotherapeutische Arbeit mit Kindern aus? Wie verändert sich die Situation der Kinder? Anna Gunsch, Leiterin des neuen Bereichs «Systemisch Vertieft», im Gespräch mit Sabine Brunner, Psychotherapeutin am Marie Meierhofer Institut für das Kind.


Anna Gunsch: Du beschäftigst Dich am Marie Meierhofer Institut für das Kind (MMI) seit Jahren professionell mit dem Thema «Reden mit Kindern». Warum ist dieses Thema so wichtig und wie können wir uns Deine Arbeit beim MMI vorstellen?

Sabine Brunner: Das Thema «Reden mit Kindern» ist unerwartet komplex für Fachpersonen. Aus meiner Sicht sollte es ganz klar sein, dass Fachpersonen un- abhängig von ihrer Fachrichtung, die mit Kindern zu tun haben, das Gespräch mit Kindern suchen. Dabei sollten sie ernsthaftes Interesse daran haben, zu schauen, wo das Kind steht, was es braucht und was es dazu meint, was ich da für seine Familie tue. Vielleicht möchte sich das Kind dazu äussern oder auch nicht. Hauptsache ist, dass man das Gespräch sucht. Was jetzt so einfach und selbstverständlich klingt, stellt sich in der Praxis als ziemlich schwierig dar. Wie führe ich jetzt dieses Gespräch genau? Wie finde ich den Zugang zum Kind? Deshalb bearbeiten wir in Kursen für Fachleute immer wieder diese Fragen. Dabei geht es auch um den Respekt davor, was das Kind sagen will respektive nicht sagen will. Fachleute tendieren dazu, in Gesprächen mit Kindern möglichst viel «herausholen» zu wollen. Deshalb müssen wir achtsam sein, wo die Grenzen liegen, die gerade jüngere Kinder nicht verbal äussern, sondern mit ihrem Verhalten zeigen. Das ist für einen kindgerechten Umgang entscheidend.

Mein Aufgabenbereich beim MMI ist mit «Psychologische Dienstleistungen und Grundlagen» beschrieben. Meine Arbeit ist vielfältig, sie umfasst Projektarbeit, Schulungs- und Vortragstätigkeit, aber auch Publikationen. Meine Themen sind die frühe Kindheit und gesellschaftspolitische Fragen insbesondere im Zusammenhang mit dem Kindesschutz. Ich gebe aber auch Supervisionen für Fachpersonen, bin psychotherapeutisch tätig und berate Familien, oft im Kontext einer Trennung.

Wie beurteilst Du die gesellschaftliche Entwicklung in Bezug auf die Rolle und die Rechte von Kindern?

Die Einführung der Kinderrechtskonvention und die stärkere Gewichtung der Partizipation von Kindern in Entscheidungsprozessen haben in den letzten 20 Jahren bedeutende Veränderungen im Umgang mit Kindern ermöglicht. Trotzdem besteht aus meiner Sicht nach wie vor eine grosse Verwirrung darüber, wie und wann man Kinder tatsächlich miteinbezieht. Wie können wir den Leitsatz «Wir sollten mehr mit Kindern reden – statt über sie» besser umsetzen? Und wie ist es zu verstehen, was Kinder sagen? Es kommt schnell zu grossen Auseinandersetzungen, wenn ein Kind etwas äussert, das ein Elternteil oder eine Fachperson anders sieht. Um die kindlichen Aussagen herum sind überdies viele – aus meiner Sicht nicht sehr dienliche – Konstrukte entstanden. Es sind vor allem Interpretationen, die sich wie Schichten über die Äusserungen des Kindes legen und die Aussagen eines Kindes in bestimmten Situationen wieder entwerten. Dazu sind Begriffe wie «instrumentalisierter Kindeswille», «selbstzerstörerischer Kindeswille» oder «beeinflusster Kindeswille» entstanden. Mir ist es wichtig, dass wir die Gesamtheit der kindlichen Äusserungen entgegennehmen und als solche stehen lassen, also verbale und nonverbale Äusserungen, aber auch Äusserungen aus der Psychosomatik oder dem Verhalten. Da kann es durchaus Widersprüche geben. Die Fachpersonen müssen dann das Ganze anschauen und erst in einem letzten Schritt aus der Sicht des Kindeswohles Schlüsse ziehen. Das Kind muss erfahren, dass sein Wille verstanden worden und in die Überlegungen eingeflossen ist.

Die gesellschaftliche Haltung zum Thema Trennung und Scheidung hat sich in den letzten Jahren ziemlich verändert. Was ist da Deine persönliche Einschätzung?

Seit vielen Jahren hat sich die Anzahl an Trennungen der Eltern auf einem relativ hohen Niveau eingependelt. Fast die Hälfte aller Paare trennen oder scheiden sich wieder. Für die ganze Gesellschaft, aber auch für Kinder wird es immer normaler, dass es getrennt lebende Familien gibt. Das ist gut, denn es ist für Kinder angenehm, zu wissen, dass eine Trennung seiner Eltern nichts Abnormales ist. Zurzeit findet aber rund um das Thema «Gemeinsames Sorgerecht» ein ziemlich heftiger Kampf in der Öffentlichkeit statt, der sich auch auf uns Fachpersonen niederschlägt. Das hat mit der Mehrheit an Familien gar nichts zu tun. Aber der sehr laute und dominante Diskurs schwappt leicht in die Psychotherapie herüber. Hier scheint es mir wichtig, dass wir für uns selber immer wieder klären, wie wir uns positionieren, wenn wir mit diesem enormen Druck konfrontiert werden, der in diesen Familien herrscht.

«Es scheint mir wichtig, dass wir für uns selber immer wieder klären, wie wir uns positionieren.»

Ich stelle zudem aber auch erfreut fest, dass sich sehr viele junge Menschen heute grundsätzlich fragen, wie sie zusammenleben und Kinder haben wollen. Gibt es noch andere Modelle als das der Kleinfamilie? Da habe ich grosse Hoffnungen, dass sich in nächster Zeit noch bessere Modelle herausbilden werden und die Gesellschaft sich ändert hin zu mehr Kinderfreundlichkeit und Durchlässigkeit für die Strukturen, die rund um das Kind gestaltet sind.

Wohin geht der Diskurs in der Auseinandersetzung um die Kinderrechte zum
Beispiel beim gemeinsamen Sorgerecht?

Ich sehe zwei Strömungen. Die grosse Mehrheit der Betroffenen findet Lösungen, die für getrennt lebende Familien passend sind und die Anliegen und Bedürfnisse des Kindes sowie seine Rechte gebührend berücksichtigen. Dagegen hat ein kleinerer Teil der Familien Mühe, eine Regelung zu finden. Es wird um die Kinder gestritten, als seien sie ein Besitz der Eltern und nicht Wesen, die es behutsam zu umsorgen und zu begleiten gilt. Kinder können in solchen Situationen äussern, was sie wollen, es führt zu mehr Streit und Abwertung statt dazu, dass ihre Anliegen aufgenommen und Lösungen gesucht werden.

Gibt es aus Deiner Tätigkeit am MMI eine Erkenntnis, die Dir für die psychotherapeutische Praxis besonders wichtig ist?

Zentral scheint mir die Haltung am MMI, in der psychotherapeutischen Arbeit mit Kindern mit einem flexiblen Setting zu arbeiten. Gerade in den komplexen Familiensituationen, die uns begegnen, ist es eine wichtige Arbeit, vorerst im Gespräch mit den Eltern zu schauen, ob sie ihren Blick auf das Kind und ihr Verhalten gegenüber dem Kind verändern können. Das Kind kann durchaus einbezogen werden. Es ist aber sinnvoll, dies nicht zu fest, sondern nur punktuell zu tun. Die psychotherapeutische Arbeit bei Kindern in strittigen Familiensituationen kommt eigentlich erst dann zum Zug, wenn wir mit den Eltern nicht weiterkommen oder wenn das Kind zeigt, dass es unter der Familiensituation leidet und Unterstützung wünscht. Oder anders gesagt: Es gibt bei jeder Familie verschiedene Ansatzpunkte und Handlungsmöglichkeiten, denen man mit einem passenden Setting gut begegnen kann.

Gibt es aus Deiner eigenen psychotherapeutischen Arbeit mit Kindern Erfahrungen, die Dir besonders wichtig sind?

Für mich war sehr spannend, zu realisieren, dass mir das kindliche Spiel auf ganz verschiedenen Ebenen Auskunft geben kann. Da ist die inhaltliche Ebene, um gemeinsam auf ein Thema einzugehen. Zum Beispiel inszeniert das Kind mit Spielfiguren etwas, auf das wir einsteigen können. Dann bekommen wir meistens eine Rolle zugewiesen und merken dann, dass diese Rolle diejenige ist, die das Kind im Alltag einnehmen muss, und das Thema ein Thema ist, das das Kind in seinem Leben kennt. Auf dieser symbolischen Ebene kann man im Rollenspiel gemeinsam auf dieses Thema eingehen. Kinder, denen es nicht so gut geht, kommen oft nicht gut ins Spielen. Psychische Schwierigkeiten zeigen sich dann auch auf der «formalen» Ebene: Ein Kind hat vielleicht Mühe, Interesse am Spiel zu entwickeln, es spielt zu schnell oder es nimmt viel zu viel Spielsachen hervor und kommt dann nicht mehr zurecht damit oder es gibt frustriert wieder auf oder hat Schwierigkeiten, mich in sein Spiel einzubeziehen. Gerade auf dieser formalen Ebene lohnt es sich, therapeutisch zu arbeiten. Denn wenn die «Spielfähigkeit» bei einem Kind erreicht wird, ist oft der wichtigste Schritt der Therapie gemacht. Die Spielfähigkeit spiegelt die Gesundung des Kindes wider. Ich war ursprünglich eher skeptisch, welchen Nutzen Spieltherapien haben können, aber die spannenden Erfahrungen mit dieser reichhaltigen Art der therapeutischen Arbeit überraschen und bereichern mich immer wieder von Neuem.

Welche aktuellen Herausforderungen siehst Du in der psychotherapeutischen Arbeit mit Kindern?

In meinem Bereich von Trennung und Scheidung sowie im Kindesschutz sehe ich einen grossen Bedarf an psychotherapeutischer Betreuung. Im Kindesschutz stellen wir fest, dass die körperliche Gewalt, um Kinder zu erziehen, zwar abnimmt. Aber wenn Eltern ihre Kinder mit ihren Vorstellungen bedrängen und überladen und so dem Kind keinen Raum für die eigene Entfaltung lassen, ist dies sehr einengend und kann vom Kind als eine Art psychische Gewalt erlebt werden. In der Therapie geht es dann darum, dem Kind mehr Entwicklungsfreiheit zu geben. Wichtig erscheinen mir auch Kinder, die Traumatisierungen

«Auf dieser formalen Ebene lohnt es sich, therapeutisch zu arbeiten.»

erlebt haben, was oft erst im Rahmen einer Psychotherapie deutlich wird. In Familie, Kita oder Schule fallen diese Kinder eher als entwicklungsverzögert, verhaltensauffällig, depressiv, hyperaktiv oder auch autistisch auf. Erst wenn man sich der Biografie des Kindes zuwendet und sie mit seinem Verhalten vergleicht, können die Kinder passend unterstützt werden. Dies ist aus meiner Sicht eine wichtige Aufgabe der Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten. Insbesondere ist dies auch Thema bei geflüchteten Menschen und ihren Kindern. Geflüchtete und ihre Kinder haben noch viel zu wenig Zugang zu den beratenden und therapeutischen Angeboten. In Kombination mit der gravierenden psychotherapeutischen Unterversorgung für Kinder und Jugendliche trifft es diese Gruppe besonders hart.

Die Belastung für Kinder und Jugendliche durch die Corona-Pandemie wird in der Öffentlichkeit gerne betont. Was ist Deine persönliche Einschätzung?

Die bisherigen Forschungsresultate sagen eindeutig, dass es Kindern mit einem fürsorglichen Elternhaus und einer Familie mit genügend Ressourcen während des Lockdowns und anderer pandemiebedingter Beschränkungen oft besser ergangen ist als im oft als hektisch empfundenen Alltag. Die Beruhigung haben viele Familien als Gewinn empfunden, vor allem weil sie ihre Beziehungen besser leben konnten. Dagegen hat sich die Situation für Familien, denen es aus irgendeinem Grund nicht so gut geht, deutlich verschlechtert. Für sie war es schwieriger, zu ertragen, was zu Hause fehlte. Zudem wurde es für diese Familien schwieriger, den Anschluss an das zu bewahren, was die Gesellschaft bietet. Das bedeutet, dass diese Kinder in ihrer Entwicklung und ihrer Bildung eher Rückschritte gemacht haben.

«Wie kann ich den Eltern helfen, mit den Anliegen des Kindes umzugehen?»

Kinder müssen vielen Regeln folgen. Während der Pandemie waren diese Regeln ausgesprochen wechselhaft, was – nicht nur bei den Kindern – mit der Zeit zu einer Ermüdung und zu verständlichen Irritationen führte. Zudem korrelierten diese Regeln je nachdem schlecht mit dem jeweiligen Entwicklungsstand der Kinder. Kinder machten in der Pandemie viele Erfahrungen mit äusseren Grenzen und auch damit, dass sie das nicht alleine betrifft. Das würde ich grundsätzlich durchaus positiv bewerten. Es scheint mir eine wichtige Erfahrung zu sein, mitzuerleben, dass wir gemeinsam und auch als ganze Gesellschaft Lösungen finden müssen.

Du wirst in der neuen Weiterbildung «Systemische Therapie und Beratung mit Kindern und Jugendlichen» zwei Tage zu den Themen «Reden mit Kindern, Kinderrechte, Trennung und Scheidung der Eltern» bestreiten. Auf was freust Du Dich besonders?

Bisher habe ich Weiterbildungen mit Fachpersonen unterschiedlichster Professionen gestaltet, nun freue ich mich als Psychotherapeutin sehr auf die Auseinandersetzung mit meinen Berufskolleginnen und -kollegen. Ich denke, das wird auf jeden Fall eine ganz andere Dynamik geben. Da bin ich gespannt darauf und habe aber auch Respekt davor. Ich bin überzeugt, das wird ein spannender Dialog und wir werden gemeinsam sicher auch viel Neues entdecken. Bei Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten muss ich keine grundlegenden Elemente der Gesprächsführung mehr vermitteln, wir können uns auf Haltungsfragen und auf die psychodynamischen Themen fokussieren: Wie kann ich die kinderrechtliche Haltung einnehmen, dem Kind die Sicherheit vermitteln, dass es ein Subjekt ist mit eigenen Anliegen und Bedürfnissen, die immer eine Berechtigung haben? Wie kann ich für das Kind hilfreich sein, zum Beispiel im Kontext von streitenden Eltern? Wie kann ich dem Kind helfen, seine Position zu finden? Wie kann ich den Eltern helfen, mit den Anliegen des Kindes umzugehen? Wie können wir gemeinsam etwas für alle Beteiligten Stimmiges finden?

Was sollen die Teilnehmenden aus Deinem Teil der Weiterbildung mitnehmen können?

Mir ist wichtig, dass die Teilnehmenden ein Bewusstsein für zwei zentrale Aspekte entwickeln können: Sehr wichtig ist, dass das Kind ein «Rechtssubjekt» respektive eine Persönlichkeit ist, die wir ernst nehmen müssen. Gleichzeitig müssen wir auch die unglaubliche Verwicklung und die enge Vernetzung sehen, die das Kind in seinem System hat. Da bestehen starke Abhängigkeiten, aber jedes Kind hat durchaus auch autonome Seiten. So können wir uns überlegen, was ein Kind braucht, dass es einen guten Umgang mit seiner Abhängigkeit findet, bei dem es nicht leidet, aber auch die Eltern ihre Rolle gut ausfüllen können.

Weshalb lohnt es sich für erfahrene Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, sich noch weiter in die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen zu vertiefen?

Ganz grundsätzlich ist es ein grosser Unterschied, ob ich mit Kindern oder mit Erwachsenen arbeite. Während der Dialog mit Erwachsenen primär verbal abläuft, wird er mit Kindern flexibel auf das Spiel verlagert. Es muss aus meiner Sicht in der Therapie mit Kindern immer eine freie Möglichkeit geben, den Dialog im Spiel weiterzuführen. Das Spiel ist ebenfalls ein Medium der Kommunikation. Im Spiel findet viel therapeutischer Dialog statt, aber auch Deutungen oder Spiegelungen über das Spiel sind eine gute Möglichkeit in der therapeutischen Arbeit mit Kindern. Das ist eine völlig andere Arbeit als diejenige mit Erwachsenen, die wir lernen und in die wir hineinwachsen müssen. Das braucht Übung und auch eine Auseinandersetzung mit sich selber. Wie trete ich ein ins Spiel mit Kindern? Wie gehe ich mit meinen Beobachtungen um?

Ganz herzlichen Dank für das Gespräch.

 

Das Gespräch mit Sabine Brunner ist publiziert im IEF-Magazin Nr. 14, Frühling 2022.

 

Sabine Brunner ist Psychologin und eidg. anerkannte Psychotherapeutin. Sie arbeitet seit 2008 am Marie Meierhofer Institut für das Kind (MMI), das zu Themen rund um das Kind forscht, bildet und berät. Am MMI ist Sabine Brunner Co-Verantwortliche für psychologische Dienstleistungen und Grundlagen. Am IEF wird sie im neuen Weiterbildungsgang «Systemische Therapie und Beratung mit Kindern und Jugendlichen» ein zweitägiges Modul gestalten.