Was wirkt in der Psychotherapie?

Psychotherapie wirkt inspirierend, energetisierend und transformierend — in der Regel besser als nur Psychopharmaka. Aber was sind die Wirkfaktoren? Nach dem Gespräch mit Günter Schiepek im letzten IEF-Magazin stellt nun Dr. Hans Menning, Vorstandsmitglied des IEF, einige herausragende Neuerscheinungen zum Thema «Was wirkt in der Psychotherapie?» vor.
 

In den letzten Jahren hat die Psychotherapieforschung erstaunliche Fortschritte hin zu einer ehrlicheren, offeneren, «systemischeren» Haltung gemacht. Massgebliche Forscher wie Bruce Wampold in den USA, Günter Schiepek in Österreich oder Christoph Flückiger in der Schweiz haben uns gezeigt, dass es nicht mehr ausreicht, eine belanglose RCT-Studie (Randomisierte, kontrollierte Trials) an die andere zu hängen, in denen die Überlegenheit einer Methode gegenüber einer anderen oder gegenüber einer «Normalbehandlung» demonstriert wird. Das befördert höchstens noch universitäre Karrieren, die sich darauf spezialisiert haben, den Mainstream der Forschung zu bestätigen.

Wir wissen es und sind trotzdem immer wieder sehr erstaunt: Psychotherapie ist überraschend wirksam, oft sogar wirksamer als Medikamente und Placebos. Dabei ist sie selbst eine Art Placebo, das Glaubenmachen einer Perspektive.

Peter Krummenacher hat an der ETH Zürich die Wirkung des Placebo-Effekts erforscht und kommt zu dem Schluss, dass darin ein «bisher unsystematisch genutztes gesundheitsförderndes Potenzial» liegt. Die Wirkung des gesprochenen Wortes ist enorm: Je nachdem, mit welchen Worten die Gabe eines Medikamentes begleitet wird, kann es zu starken positiven oder negativen Erwartungen kommen, so dass der Placebo- oder der entgegengesetzte Nocebo-Effekt auftritt. Sogar Schmerzempfinden kann durch Worte verstärkt oder vermindert werden. Am Anfang war das Wort…

Nun waren wir Psychotherapeuten*innen schon immer Meister des Wortes. Wir formulieren um, reframen, restrukturieren, lassen unsere Klienten*innen neue Perspektiven entwickeln. Das bemerkenswerte Buch von Wampold, Imel & Flückiger «Die Psychotherapiedebatte» (2017) stellt die Evidenz über die Wirkung und Wirkweise von Psychotherapie zusammen und erarbeitet ein kontextuelles Modell von Psychotherapie. Wer oder was produziert gute Psychotherapie? Sind es die «Supershrinks», denen einfach immer gute Beziehungen gelingen oder sind es spezifischere Faktoren? Die jahrzehntelange, dichotome Kontroverse zwischen spezifischen und unspezifischen Wirkfaktoren wird auf die Goldwaage gelegt und die allgemeinen, gemeinsamen und spezifischen Wirkfaktoren in ein «Kontextuelles Metamodell» integriert. Dieses schlägt drei allgemeine Wirkmechanismen vor, um positive Veränderungen in einer Psychotherapie zu erklären: echte Beziehung, Erwartungen (Placebo-Effekt!) und (spezifische) Behandlungsdurchführung. Wenn eine Psychotherapie diese drei Wirkmechanismen enthält, ist sie wirksam. Behandlungen sind erfolgsversprechend, wenn die Grundlagen überzeugend und nachvollziehbar sind, die Therapeuten*innen überzeugend an ihre Behandlung glauben und Patienten*innen überzeugt sind und erwarten, verstanden zu werden und nützliche Hilfestellungen zu erhalten, um die gesundheitsförderlichen Veränderungen selbst in die Hand nehmen zu können. Die allgemeinen Faktoren erhielten damit eine unheimliche Aufwertung gegenüber den spezifischen Techniken.

Damit ist nicht der Supershrink der Gott der Therapie, noch ist es der Patient, der alles für seine Genesung tut, noch die spezielle Methode oder Technik, sondern alles zusammen in einem bestimmten Prozess, in einem bestimmten Kontext.

Die (systemische) Kontextabhängigkeit wird auch in dem von Martin Rufer und Christoph Flückiger herausgegebenen Buch «Essentials der Psychotherapie» deutlich. Günter Schiepek fasst mit den «generischen Prinzipien» die grundlegenden Faktoren gelingender Psychotherapie aus Forschungssicht zusammenfasst. Martin Rufer tut das Gleiche aus der Perspektive der Praxis: Sein Motto: «Erfasse komplex, handle einfach» kann als oberstes Gebot betrachtet werden, gefolgt von «Freue dich auf deine Patienten…», «Stelle die richtigen Fragen…», «Höre und schaue genau hin…», «Nutze Bindungen…»,, oder «Achte auf dich selbst…». Diese Quintessenz jahrzehntelanger Erfahrung wird von Ulrike Dinger aufgegriffen und in der Polarität zwischen Vertrauen und Selbstwirksamkeit reflektiert. Annette Kämmerer denkt über das Menschenbild und Würde in der Psychotherapie nach, während Christoph Flückiger die wichtigsten Wirkfaktoren und vor allem das Therapeutenbild reflektiert. Hans Lieb spannt den Bogen zwischen Individualität und Verallgemeinerung, während Dirk Zimmer ganz konkret schildert, wie abstrakte negative Selbstabwertung in ein positives Selbstbild überführt werden kann. Für Ulrike Willutzki ist die Haltung essenziell, während Verena Kast die kulturelle Bedingtheit unseres Handelns aus Jung‘scher Perspektive reflektiert. Maria Borcsa stellt das Selbstverständliche infrage und betont die zündelnde Kraft des Fremden.

In einer gross angelegten Praxisstudie an der ZHAW Zürich erforschten von Wyl, Tschuschke, Crameri, Koemeda-Lutz und Schulthess (2016) «Was wirkt in der Psychotherapie?». Sie nahmen die ambulante Psychotherapie anhand von 10 unterschiedlichen aktuellen Verfahren verschiedener Schulen unter die Lupe. Die ZHAW-Forschenden untersuchten mithilfe eines eigens dafür entwickelten Rating-Manuals 100 spezifische, voneinander abgrenzbare therapeutische Interventionen. Insgesamt wurden in der Hauptstudie 262 Sitzungen mit 81 Patienten*innen und 30 Therapeut*innen untersucht. Interessanterweise konnte beobachtet werden, dass unterschiedliche Techniken zu einer vergleichbaren Effektivität führten. Dies ist insbesondere darauf zurückzuführen, dass die Behandelnden mit zunehmender beruflicher Erfahrung seltener nur die ihrer Schule entsprechenden methodenspezifischen Interventionen einsetzten. Schulen übergreifende Interventionen machten etwa zwei Drittel aller Interventionen aus. Die Behandelnden entwickelten ihren eigenen therapeutischen Stil, welcher mehr oder weniger konfrontativ, unterstützend, emotions-, einsichts- oder lösungsfokussiert war. Erstaunlich: Die Wirksamkeit von humanistischen, tiefenpsychologischen oder systemisch orientierten Behandlungen lag im gleichen Bereich wie die von kognitiv-behavioralen!

Ein Buch von eher humoristisch-anekdotischem Wert präsentierte in diesem Jahr Manfred Lütz im Dialog mit Otto Kernberg: «Was hilft Psychotherapie, Herr Kernberg? Erfahrungen eines berühmten Psychotherapeuten» (2020). Nicht nur Sigmund Freud, Viktor Frankl, Bruno Bettelheim, der renommierte Hirnforscher Niels Birbaumer und der Nobelpreisträger Eric Kandel sind Wiener, sondern eben auch Otto Kernberg, der vor kurzem 92 Jahre alt geworden ist und der sich vor allem mit der Behandlung von schweren Persönlichkeitsstörungen wie pathologischem Narzissmus oder der Borderlinestörung einen Namen gemacht hat. Manfred Lütz, der Fragensteller in diesem Interviewbuch, ist uns schon 2007 mit einer «Gott»-Monographie aufgefallen, die dann zum Spiegel-Bestseller avancierte, aber dann auch mit «Irre - wir behandeln die Falschen» dessen Sequel «Neue Irre…» aus aktuellem Anlass gerade erschienen ist.

Kernberg überblickt ein Jahrhundert der Psychotherapie, er beantwortet einfache Fragen mit einfachen Antworten, so dass auch ein «gebildeter Metzger» sie verstehen könnte. Mit Beispielen aus seiner Praxis und aus seinem privaten Leben und gesundem Menschenverstand veranschaulicht er auch komplexe Zusammenhänge. Am beeindruckendsten ist das sehr persönliche Kapitel über die Kindheit in Wien vor und nach dem Anschluss 1938, die Flucht über Italien nach Chile und letztendlich in die USA. Die Fragen werden sehr persönlich ohne Tabus gestellt, es geht unter anderem um gute Psychotherapie und was sie kann, gute Beziehungen und Liebe, Sexualität, Religiosität, Tod, Holocaust, ob Gott letzten Endes ein Zyniker ist und sich nicht für die Menschen interessiert, letztlich den Sinn des Ganzen aus der Sicht eines Menschen, der unermüdlich ein Leben lang anderen zugehört hat.

 

 

Unser Vorstandsmitglied Dr. Hans Menning ist Fachpsychologe für Psychotherapie FSP in eigener Praxis und unter anderem Autor des 2015 erschienen Buch «Das psychische Immunsystem - Schutzschild der Seele.»